Verzweifelte Jahre
Wort, in jeder Silbe. Manchmal rutscht mir trotzdem was raus, da kann man aufpassen, wie man will. Phrasen sind am heikelsten. Sie sind so in einem drinnen, man nimmt sie nicht mehr wortwörtlich. »Da fährt die Eisen—«, sage ich. Der Rest bleibt mir im Hals stecken. Ich Volltrottel, denke ich. Da fahrt die Eisenbahn drüber. Wie habe ich das nur sagen können? Da hätte ich gleich sagen können, da fährt die Eisenbahn über den Verbrecher drüber. Kurz hoffe ich, dass sie es überhört hat. Aber sie überhört nichts. Ich schaue zu ihr hinüber und sehe einen bösen Blick. Niemand hat auch nur eine Ahnung, was solche Winzigkeiten in ihr lostreten. Niemand hat auch nur eine Ahnung, wie viele Hindernisse Natascha Tag für Tag überwindet. Menschen. Verrauchte Räume. Supermärkte. Unnötige Seitenblicke. Zebrastreifen. Ungewollte Gespräche. Aufzüge. Neugieriges Tuscheln. Großstadtverkehr. Laute Stimmen. Abgase. Künstliches Lachen. Amtswege.
Unbedachte Worte. Verträge. Gespielte Freundlichkeit. Starrummel. In nichts davon hat sie Übung. Alles war für sie in den vergangenen Monaten das erste Mal. Es ist, denke ich, als wäre sie mit achtzehn auf die Welt gekommen und taste sich jetzt durchs Leben. Sie stößt andere Leute vor den Kopf, mit Umgangsformen, die man als ungeschliffen missdeuten kann. Anderseits zeigt sie ihnen genau damit, wie es wäre, wenn man einfach aus dem Herzen heraus handelt. Ohne Heuchelei. Sie kommt aus einer erzwungenen Einsiedelei, in der sie nur ihre Werte, ihre Ideale hatte. Im Kampf gegen einen übermächtigen Feind. Und auf einmal ist sie Teil eines kapitalistischen Systems. Das von der ersten Stunde in Freiheit an über sie hereingebrochen ist. Mich beschäftigt das. Ich versuche immer wieder, mich in sie hineinzudenken. Einen Euro hat sie bekommen vom Verbrecher. Einen Euro in der Woche, als Taschengeld, dass sie sich etwas kaufen kann. Sie empfand das als Verhöhnung. Am Ende eines Jahres hatte sie zweiundfünfzig Euro. Auch eine Art Kalender.
*
Wir gehen durch die Stadt. Der Gehsteig ist breit. Natascha hat sich bei mir eingehängt. Das ist neu. Üblicherweise geht sie ein Stück vor mir. Das ist ihr geblieben.
»Du musst mit mir synchron gehen«, sagt sie.
Ich mache einen Wechselschritt, um mich ihr anzupassen. Ein junger Mann kommt auf uns zu, sein Rucksack streift sie. Sie zuckt zusammen.
»Der hat mir jetzt auf die Schultern... «
Sie reißt sich von mir los und läuft zu Claudia, die ein paar Meter weiter vorne geht, hängt sich bei ihr ein und beginnt zu rennen. Ich komme fast nicht nach.
Wir reden nicht darüber. Ein paar Tage vergehen. Sie will allein spazieren gehen. In der Gegend, die sie von früher kennt. Sie ist lange weg. Ich mache mir schon Sorgen. Sie ruft an.
»Ich weiß nicht, wo ich bin«, sagt sie. »Was steht denn auf den Straßenschildern ?« , frage ich. »Da kommt ein Mann«, sagt sie. In ihrer Stimme schwingt
Angst mit. »Es ist alles in Ordnung«, sage ich, »es ist nur ein Fußgänger .« »Ich geh lieber auf die andere Straßenseite«, sagt sie. Es ist kurz still in der Leitung. »Nein«, sagt sie, »ich gehe einfach weiter .« »Wo bist du denn ?« , frage ich. »Siemensstraße«, sagt sie. Ui, denke ich. Da ist sie ganz schön vom Weg abgekommen. »Ich schaff das schon«, sagt sie. Nach einer dreiviertel Stunde kommt sie bei der Tür herein. Ich nehme sie in die Arme. Ich bin stolz auf sie. Ich kann mich nicht allein in der Öffentlichkeit bewegen, hat sie noch unlängst zu einem Journalisten gesagt, es ist zu riskant. Sie lernt so schnell. Es sei ein Schock, hat sie gesagt, jedes Mal, wenn sie in die normale Welt hinausgegangen ist. Sie war total verängstigt, wollte sich verstecken. Ich bin das nicht gewöhnt, hat sie gesagt, ich kann viele Leute nicht vertragen, ich bin menschenscheu. Sie ist so tapfer. Es ist schön, sagt sie, wenn einen eine alte Dame anlächelt, so verschmitzt. Wenn mir wer zuzwinkert, das ist angenehm. Es schreckt mich kurz, wenn mich wer anspricht, aber dann gratuliert man mir nur, dass ich frei bin. Sie ist so zuversichtlich. Ein paar Wochen vergehen. Wir gehen essen. Zum Italiener. Das Lokal ist halbwegs voll. Wir unterhalten uns. Sie ist nicht ganz bei der Sache. Man schaut zu uns herüber von den anderen Tischen. Es irritiert sie. Man flüstert über uns. Es lenkt sie ab. Vielleicht ist es nur meine Verletzlichkeit, sagt sie. Sie geht zu einem Konzert. Wolfgang Ambros. Sie mag Austropop, denke ich, sie muss
Weitere Kostenlose Bücher