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Verzweifelte Jahre

Verzweifelte Jahre

Titel: Verzweifelte Jahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitta Sirny-Kampusch
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»Wo sind meine Stiefel ?« Sie zuckt die Schultern. »Weg.« »Geh, Natascha. Ich muss ja gehen .« »Nein«, sagt sie, »du gehst nicht, ich lass dich hier nicht mehr raus, jetzt bleibst du da«. »Das glaub ich aber nicht«, sage ich und überlege, was ich machen soll. Vielleicht will sie nur sehen, wie ich reagiere. Vielleicht meint sie es ernst. Ich spiele das Spiel eine Zeit lang mit, aber Natascha rückt die Stiefel nicht heraus. Ich gehe zum Fenster. Wenn ich ihr den Rücken zuwende, geht sie vermutlich eher zu dem Versteck. Ich habe recht. Sie stellt sich neben mich und drückt mir die Stiefel in die Hand. »Hier. Ich glaube, ich muss lüften .« Sie will das Fenster aufmachen. Grade wollte ich noch blödeln, ob das wegen meiner Stiefel ist. Jetzt erstarre ich. Ich schaue hinunter. Elfter Stock. Ich schiebe Natascha sanft beiseite und schließe das halb offene Fenster. Sie haben sie in ein Zimmer in den elften Stock verlegt, denke ich. Wo sich die Fenster aufmachen lassen. Eine Patientin, die möglicherweise selbstmordgefährdet ist. Ich schaue wieder nach unten. Vor acht Jahren bin ich so dagestanden, auf meinem Balkon.

    *

    Natascha ist wieder zu Hause. Sie übernachtet bei mir. Wir sind wieder zusammen. Sie schläft in ihrem alten Zimmer, das jetzt mintgrün ist. Wie lange sie hier bleiben wird, wissen wir nicht. Sie hat das Schwesternheim hinter sich. Sie will in eine eigene Wohnung. Aber so was geht nicht von heute auf morgen, sie wird sich ein bisschen gedulden müssen.
    Sie schaut durch die Vorhänge auf die von Raureif überzogene Wiese hinunter. Auf den Weg, den sie damals gegangen ist. Ich fürchte gerade, dass die Erinnerung sie einholt.
    Natascha stellt sich in die Mitte des Wohnzimmers und blickt sich um, als hätte sie es noch nie gesehen. Und manches hat sie tatsächlich noch nie gesehen.
    »Was ist das ?« , fragt sie und nimmt den weißen Engel, der links neben dem Fernseher steht. »Ein Engel«, sage ich. Natascha fragt nicht weiter. Vermutlich spürt sie, dass die Erklärung uns auf das Gebiet führen würde, das wir, wie in einer stillen Abmachung beschlossen, nicht betreten. Und ich erzähle ihr nicht von diesem Traum, in dem ich damals, in der schlimmsten Zeit, einen Engel gesehen habe, mit ihrem Gesicht. Jahrelang habe ich nach genau dieser Figur gesucht, jeden Ramschladen, jeden Flohmarkt durchstöbert, bis ich diesen hier gekauft habe. Er ähnelt dem Traumbild nicht, ich hab ihn trotzdem genommen. Er steht da, mit seiner Kerze auf dem Kopf, als Symbol der Hoffnung. »Ach so«, sagt Natascha, »ein Engel .« Sie macht keine Anstalten, die Statuette zurückzustellen. Ich beobachte ihre Versunkenheit. Eigenartig, denke ich. Sie passt nicht mehr hierher. Wie ein Kind, das ausgezogen ist und gerade einmal auf Besuch kommt. Sie wirkt irgendwie verloren. So ist das also mit der Freiheit, denke ich. Der große Moment ihrer Rückkehr ist vorbei, die Aufregung hat sich gelegt. Wie im Film. Die Helden haben sich gefunden, Abblende. Die Gefahren sind ausgestanden, Finale. Die besten Drehbücher folgen immer einem Modell. Jemand will unbedingt etwas haben und muss die höchsten Hürden überwinden, um es zu bekommen. Dann hat er es. Tusch. Nachspann. Und niemand denkt darüber nach, dass jetzt das eigentliche Leben beginnt. Das ist der Punkt, an dem wir stehen. Ich sehe eine Achtzehnjährige in meinem Wohnzimmer stehen, wo früher eine Zehnjährige herumgetollt ist. Die zwei Gesichter meiner Tochter legen sich übereinander. Das Kind, die junge Frau. So vertraut, so fremd. Mir fehlt der fließende Übergang. Mir fehlen die Jahre, in dem das Kind zur Frau wurde. Wir können das nicht nachholen. Wir müssen uns neu kennenlernen. Wäre Natascha mit dreißig entführt worden und mit achtunddreißig zurückgekommen, müssten wir uns auch wieder aneinander herantasten. Aber mit dreißig wäre sie ein Mensch, der seine Entwicklung so ziemlich abgeschlossen hat. Wir sind auseinandergerissen worden, bevor diese Entwicklung begonnen hat. Vor der Pubertät und dem Trubel, den die Hormone dabei veranstalten. Da ändert sich ja einiges im Körper. Andere Kinder kennen sich in dem Alter überhaupt nicht aus mit sich selber. Sie lernte sich gerade in der Zeit so kennen, wie andere das ihr Lebtag nicht schaffen . Als sie die erste Regel bekam, hatte sie einen Stock höher einen Verbrecher sitzen, keine Mutter. Während andere in die Schule gingen, hatte sie ein Radio, keine Freundinnen. In der Zeit, in der

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