Verzweifelte Jahre
andere ihren ersten Freund küssen, hat sie sich selber stricken beigebracht, um nicht durchzudrehen. Das alles fehlt ihr. Das alles fehlt mir. Wir brauchen jetzt uns. Natascha stellt den Engel zurück. »Übrigens, Mama«, sagt sie, »hab ich dir das schon gezeigt ?« Sie sucht etwas in ihrer Handtasche. »Da, schau .« Sie legt mir ein paar Fotos hin. Sie ist nicht sehr freigiebig mit persönlichen Dingen. Etwas von sich preiszugeben, ist immer nur ihre Entscheidung. Jetzt ist wieder so eine Gelegenheit. Ich freue mich und greife zu den Bildern. Man sieht einen Sarg. »Sie haben ihn nicht mehr aufgemacht«, sagt Natascha. »Ich hab mich halt so von ihm verabschiedet .« Ich starre auf das Bild. Den Sarg von Wolfgang Priklopil.
*
Wir sprechen den Namen nie aus. Wir holen die verlorenen Jahre nie absichtlich zurück. Und doch.
Jeder Handgriff kann die Geister heraufbeschwören. Wir bewegen uns permanent zwischen alter Gewohnheit und neuem Leben. Im Haushalt prallt beides am öftesten aufeinander. Es ist ein Hochseilakt, bei dem wir immer wieder auf dem Boden landen. Auf dem Boden der Realität. Der Alltag ist der Tod der Romantik, sagt man bei Liebesbeziehungen. Für Mutter-Tochter-Verhältnisse stimmt es vielleicht noch mehr.
Wir haben unterschiedliche Auffassungen. »Wir brauchen Zitronen«, sagt Natascha. »Wir haben Zitronen«, sage ich. Zwei, drei liegen im Obstkorb.
»Wir brauchen mehr Zitronen«, sagt sie.
»Wozu?« Ich verwende Zitronen nur für den Tee, wenn ich verkühlt bin. »Zum Putzen.« Natascha nimmt alle Zitronen aus dem Korb, schneidet sie in zwei Hälften und beginnt in der Küche alles mit den Obstschalen zu schrubben. »Die chemischen Mittel«, sagt sie, während sie routiniert über die Nirosta-Flächen fährt, »die sind alle ungesund .« »Ich verstehe .« Wir sind auf verschiedene Dinge allergisch. »Geh weg da, mach keine Brösel«, sagt Natascha. »Ist doch nicht so schlimm«, sage ich, »ich wische sie nachher weg .« »So was macht man nicht«, sagt sie. »Hier macht man das schon so«, sage ich. Wir haben nicht dieselbe Einstellung zur Ernährung. Sie schwört auf Bio-Produkte. Ich esse auch einmal etwas Deftiges, wenn’s schmeckt. Wir haben nicht dieselben Methoden beim Kochen. Noch im Spital hat Natascha zum Geburtstag meiner Enkelin eine Torte gebacken. Sie wollte Michelle eine Freude machen. Sie war nervös, sie ist in der Küche herumgewieselt, sie hat alles über den Daumen abgewogen und zusammengerührt. Die Krankenschwester und ich haben uns zugezwinkert und gedacht, das wird nie was. Wir haben uns geirrt. Die Torte war zwar nicht perfekt, aber geschmeckt hat sie wunderbar. Jede Kleinigkeit macht mir klar, dass Natascha erwachsen geworden ist. Das habe ich unterschätzt. Ich habe unbewusst versucht, an unser früheres Leben anzuknüpfen. Es war ein Fehler. Ich weiß nicht, wem diese Nichtigkeiten mehr auf die Nerven gehen, mir oder ihr. Wahrscheinlich ihr.
*
Es ist Nataschas erste eigene Wohnung. Groß, hell, freundlich, sauteuer. Die Anwälte haben ihr geholfen, sich auf dem Immobilienmarkt zurechtzufinden, und sich nicht lumpen lassen. Ich höre, was die Miete kostet, und schlucke. Trotzdem freue ich mich für sie. Sie hat endlich ihre Freiheit gefunden. An einem Ort, dessen Adresse nur ihre engsten Vertrauten wissen dürfen.
Eine große Wohnung, denke ich, als ich sie zum ersten Mal besuche. Natascha führt mich durch die Zimmer und zeigt mir alles. Edler Parkettboden, frisch ausgemalt, alles tiptop. Ich beobachte sie, wie sie vor mir hergeht, ihre Schritte sind fast ein bisschen zögerlich. Sie ist es nicht gewöhnt, sich in derart viel Raum zu bewegen. Das überzeugt mich. Größe, Weite, Höhe, das ist der wahre Luxus für Natascha. Ich bin glücklich.
Sie genießt es, zu wohnen. Oder das, was sie für wohnen hält. Sie lebt nicht wie andere Menschen in ihrem Zuhause. Sie hat so lange keins gehabt. Das Großartigste an ihrer endgültigen Freiheit sind die kleinen Dinge. Selbst Licht aufdrehen zu dürfen. Im Verlies hatte sie eine Zeitschaltuhr, die ihr Tag und Nacht signalisierte. Nicht immer so, wie es Sonne und Mond da draußen regeln. Der Verbrecher hat Gott gespielt und es Licht werden lassen, wann es ihm passte. Selbst die Fenster öffnen zu können. In ihrem Raum, wie sie es oft nennt, hatte sie nicht einmal eins. Die Türe war nur von außen zu entriegeln. Im Spitalstrakt schloss man gleich wieder die Tore hinter ihr.
Um gegen die Einzelhaft im Verlies
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