Verzwickt chaotisch
hinkriegen!«, unterbrach ich ihn. Ich wollte nicht nur, dass er abbrach und Fehler einbaute. Vor allem wollte ich Zeit gewinnen, um den Kloß in meiner Kehle herunterzuschlucken, bevor Leander weitersang. Das Lied machte irgendetwas mit mir. Oder war es Leanders Stimme? Ich hatte plötzlich Lust, ein bisschen zu heulen. Und ich hatte eigentlich niemals Lust zu heulen. Leander schrammelte einen falschen Akkord, verbesserte sich und sang weiter.
»Doch du redest nur von Einsamkeit und dass die Sonne für dich nicht scheint.«
Natürlich – ich kannte das Lied. Oje. Was für ein riesiger Unterschied, wenn Leander es sang und nicht Herr Rübsam! Herr Rübsam hatte es beim Sommerfest mit Giuseppes Projektgruppe vorgetragen. Damals war ich in der fünften Klasse gewesen. Und den ganzen Song über hatte ich nur Seppo angestarrt und stolz gedacht: Ich wohne gegenüber von ihm. Er ist immer in meiner Nähe. Er gehört zu mir. Und jetzt lehnte ich an Leanders Brust und das Lied klang so anders … so anders … schöner. Ja, es klang schöner.
»Komm, gib mir deine Hand, ich führe dich durch unsre Straßen. Ich zeig dir Menschen, die wirklich einsam sind.«
Mogwai drehte sich seufzend in seinem Körbchen herum. Ich schloss meine Augen. Nun spürte ich, wie Leanders Stimme in seinem Brustkorb vibrierte. Und niemand hörte sie. Außer ihm und mir. Wir waren ganz allein auf der Welt.
Noch bevor der letzte Akkord verhallte, war ich fest eingeschlafen.
Duweißtschonwas
»Luzie! Wir müssen!«, dröhnte Mamas Stimme durch den Flur.
»Noch drei Minuten, bin gleich fertig!«, rief ich zurück und lehnte mich so schwer wie möglich gegen die Tür, damit Mama wenigstens nicht sofort in mein Zimmer platzen konnte, falls sie wieder auf die Idee kam, mich und meine Klassenfahrtsvorbereitungen auf Schritt und Tritt zu überprüfen. Denn die große Herausforderung dabei war nicht mein Koffer. Sondern Leander und seine verfluchte Gitarre. »Und?«, raunte er gespannt. »Was meinst du?« Er schlang sich das breite Lederband um die Schulter, an der er sie befestigt und das er von meinem ohnehin kargen Taschengeld bezahlt hatte. (Das meiste davon ging für Herrenduschgel, teure Unterhosen und neuerdings Pfefferminzdrops drauf, da Leander panische Angst hatte, Mundgeruch zu bekommen.) Das Holz der Gitarre funkelte leicht bläulich, als die Sonne darauffiel. Endlich war der Frühling zurückgekehrt – pünktlich zur Klassenfahrt. Und wie es aussah, war über Nacht irgendetwas mit der Gitarre geschehen. Gestern noch war das Holz einfach nur braun gewesen. Jetzt hatte es einen feinen Blaustich. Leanders Dauerüben hatte Wirkung gezeigt. Aber da nur ich ihn sehen konnte und damit in jedem Fall auch die Gitarre, mussten wir vorsichtig bleiben. Der blaue Schimmer sagte gar nichts aus. Es war kein Beweis.
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete ich mit gesenkter Stimme, da Mamas Schritte durch den Korridor polterten. »Wir müssen es wohl drauf ankommen lassen. Lieber wäre es mir allerdings, die Gitarre bleibt hier.«
Leander winkte entschieden ab. In den vergangenen Wochen hatte er auf ihr gespielt, wann immer sich die Gelegenheit dazu geboten hatte. Und das war meistens tagsüber gewesen. Sobald Mama zu Papa in den Keller gegangen war, verzog er sich auf mein Bett oder sein (mein) Sofa und bearbeitete die Saiten. Herrn Rübsams Mundorgel konnte er mehr oder minder auswendig, obwohl er leidenschaftlich über die Texte der religiöseren Lieder – und das waren einige – lästerte und ankündigte, sein Programm zu erweitern. Er habe auf YouTube genügend geeignetes Klassenfahrtsmaterial gefunden.
Im Grunde war das, was Leander vorhatte, vollkommen sinnlos. Es hörte ihn keiner außer mir. Was für einen Zweck hatte es also, mitzuspielen und zu singen, wenn Herr Rübsam uns dazu nötigte? Er konnte keinen Beifall bekommen. Er konnte nicht gelobt werden für seine schöne Stimme und seine flinken Hände. Alles, was passieren konnte, war, dass die übrigen Wächter ihn und seinen Körper entlarvten (falls sie nicht gerade geschlossen auf Freiflug waren) und anfingen, ihn zu quälen.
Aber das kümmerte Leander nicht. Also übte er oft und viel, damit die Gitarre irgendwann zu ihm gehörte und durchsichtig wurde. Dass wir sie anschließend Oma Anni vermutlich nie wieder zurückgeben konnten, weil sie für alle anderen Menschen nicht mehr da war, schien ihn nicht zu jucken. Und auch nicht, dass ich in die Bredouille geriet, wenn die Gitarre
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