Verzwickt chaotisch
nach der Klassenfahrt weder bei mir noch bei Oma Anni zu finden war und Mama auf die Idee kam, sie zu suchen oder mich – wie in den vergangenen Tagen ständig – darum zu bitten, ihr etwas vorzuspielen.
Einerseits fand Mama es »hinreißend«, dass ich nun Musik machte und abends Gitarre übte, ja, dass endlich mein Talent durchgebrochen sei, »ein kleines Genie, unsere Luzie«. Und sie fand es auch noch einigermaßen hinreißend, dass ich allein üben wollte. Unbeobachtet. Und immer dann aufhörte, wenn sie das Zimmer betrat, um ganz offiziell zu lauschen. Weniger hinreißend fand sie, dass ich mich weigerte, ihr und Papa etwas vorzutragen. Wenn ich schon Serdan etwas vorspielen würde, dann könne ich ja wohl auch meinen Eltern ein Ständchen gönnen, beschwerte sich Mama nach einigen Tagen und ihre Wimpern flatterten verdächtig.
Sie fing ohnehin alle zehn Minuten an zu weinen, weil ihr kleines Mädchen auf Reisen ging. Dabei empfand ich unsere Tour nach Altleiningen nicht im Geringsten als eine Reise. Eine Reise wäre es gewesen, wenn ich nach Afrika fliegen würde oder einen Überlebenstrip in Alaska gebucht hätte. Aber das hier war eine blöde Klassenfahrt. Wir blieben sogar im gleichen Bundesland. Und nach fünf Tagen war ich schon wieder zurück zu Hause. Das war kein echter Grund, in Tränen auszubrechen – jedenfalls nicht für Mama. Den wirklichen Ärger hatte ich. Ich musste einen unsichtbaren Wächter mitnehmen, den jeder spüren konnte, wenn er ihm zu nahe kam. Das war ein Grund zu klagen und zu jammern.
Hoffentlich war wenigstens die Gitarre transparent geworden. Hoffentlich? Es hatte mir eben einen winzig kleinen Stich versetzt, als ich das Schimmern entdeckt hatte. Von nun an konnte Leander alleine spielen und singen, wann immer er wollte. Mich brauchte er dazu nicht mehr. Gestern Abend war ich das letzte Mal in seinen Armen eingeschlafen, während er irgendetwas von einem »Hotel California« gesungen hatte, eines seiner YouTube-Favoriten. (Meine eigenen konnte ich gar nicht mehr finden zwischen all den verstaubten Anno-dazumal-Songs, die Leander abspeicherte, weil er überzeugt war, dass Herr Rübsam sie mochte.) Mama hatte noch einmal nach mir geschaut, kurz vor Mitternacht. Ich war aufgewacht, als sie mir die Decke über die Schultern gezogen hatte, und Leander war fort gewesen, samt Gitarre. Freiflug wahrscheinlich.
»Luzie! Jetzt wird es aber Zeit! Hast du denn gar keine Angst, dass der Bus ohne dich abfährt?«
Mama warf sich mit ihrem vollen Gewicht gegen die Tür. Geschätzten zwei Zentnern. Dagegen hatte ich keine Chance. Ich rutschte zur Seite und starrte angstvoll zu Leander hinüber, der aufrecht mitten im Zimmer stand, die Gitarre auf seinem Rücken. Sollte sie durch das viele Üben nicht durchsichtig geworden sein, konnten wir jetzt etwas erleben. Doch Mama hatte nur Augen für meinen Koffer. Erleichtert ließ ich die Luft aus meinen Lungen strömen und Leander zeigte grinsend sein Grübchen. Es hatte funktioniert. Meine Mutter konnte die Gitarre nicht sehen. Doch meine Erleichterung war nur von kurzer Dauer, denn Mama machte sich übereifrig an den Scharnieren des Koffers zu schaffen. Mit Schwung setzte ich mich drauf und löste ihre pink lackierten Krallen von dem Verschluss.
Sichtlich beleidigt ließ sie davon ab. »Bist du dir sicher, dass du alles eingepackt hast? Soll ich nicht doch noch einmal …?«
»Nein! Nein. Und Mama, nicht wieder weinen, bitte. Ich bin nur fünf Tage weg.«
»Fünf Tage, in denen so viel passieren kann! So viel!« Ihre Lippen begannen zu zittern. Ihre Stimme zitterte schon längst. Gleich würde Land unter herrschen.
»Herr Rübsam ist doch bei uns. Und Frau Dangel. Und – Seppo.« Mit Kelly, die beinahe jede Pause an ihm klebte und ihn zutextete. Ich schluckte. »Die passen schon auf.«
Mama stierte noch einmal auf meinen Koffer, als hätte ich ein Monster darin versteckt. Ich hatte darauf bestanden, alleine zu packen. Ich hatte keine Lust, dass sie mir nur Sachen einpackte, die ich niemals anziehen wollen würde, gekrönt von einem pastellfarbenen Schlafanzug oder einem ihrer scheußlichen geblümten Microfaserbettbezüge (die Leander hasste, weil sie laut Wächterschulung viel zu leicht entflammbar waren).
Mogwai hockte mit vorwurfsvollem Blick neben dem Koffer, das Schwänzchen ließ er traurig hängen. Er fiepte leise. Von ihm fiel mir der Abschied aufrichtig schwer. Mama zu entkommen war jedoch eine verheißungsvolle Vorstellung.
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