Verzwickt chaotisch
gestern noch geübt. Nights in White Satin. Jetzt hörte ich zum ersten Mal das Original. Leander, der es schon von YouTube kannte, hatte sich darüber mokiert, dass der Sänger im Refrain ständig »And I love you« faselte, »Oooh, I lo-hooove you.« Einmal würde reichen. Doch die Melodie, gab er zu, sei schön. Stimmungsvolle Harmonien. Gut aufeinander abgestimmt. Wirkungsvoll arrangiert.
Ja, die Melodie war schön. Aber ich mochte den Song lieber, wenn Leander ihn sang. Er tat es klarer und weniger schwülstig. Und doch gefühlvoll. Ging das denn überhaupt? Oder bildete ich mir das ein? Er war ein Wächter – wie sollte er gefühlvoll singen können?
Ein letztes Mal ließ ich meine Augen durch den Raum schweifen. Seppo und Kelly saßen bei Herrn Rübsam und besprachen mit ihm, was sie morgen mit uns anstellen würden. Frau Dangel war schon wegen Migräne ins Bett gegangen. Serdan und Billy spielten mit unbewegten Gesichtern Skat. Todlangweilig. Sofie beugte sich mit Lena und Steffi über eine Bravo. Noch langweiliger. Langweiliger als todlangweilig.
Niemand bemerkte es, als ich aufstand und zu meinem Zimmer lief. Geräuschlos drückte ich die Klinke hinunter. Elena lag in ihrem Bett, das sie zur Hälfte mit einem bunten Tuch zugehängt hatte. Nur ihre Unterschenkel und Füße waren zu sehen.
»Mach das Licht aus und halt die Klappe!«, fuhr sie mich an. Ich erwiderte nichts. Was sollte ich dazu auch sagen? Ich verspürte keine Lust, mit ihr zu reden. Und das Licht war mir sowieso zu hell.
Ich duschte, putzte mir die Zähne und kletterte in meine obere Etage. Ich war so erschöpft, dass ich mich kaum mehr rühren konnte. Doch die Einsamkeit bohrte in mir und hielt mich wach. Wo war nur Leander? Ich hatte das Fenster einen Spalt weit offen gelassen, damit er reinkommen konnte. Aber fand er überhaupt einen Platz zum Landen auf dem Burgdach? Hatte er sich vielleicht verflogen? Er war ja noch nie hier gewesen. Möglicherweise irrte er im Wald herum und wusste nicht, wohin. Oder er hatte sich mit seinem blöden Dolch verletzt. Konnte ein Wächter mit Körper verbluten, während er durchsichtig war? Ich wälzte mich hin und her, bis ich plötzlich spürte, wie die Matratze am Fußende leicht nachgab.
»Leander?«, flüsterte ich instinktiv.
»Scht, chérie. Sie ist noch wach. Sie hat Heimweh.« Er kroch neben mich und schob mich zur Wand, damit er Platz fand. Sein Atem roch nach Pfefferminz.
»Elena hat Heimweh?«, formte ich mit den Lippen.
»Und wie. Na ja, was heißt Heimweh. Ihr ist das alles zu blöd hier. Weil sie schon älter ist und sich für andere Dinge interessiert. Was man verstehen kann, oder? Sie ist am falschen Platz.«
Ich kam mir auch ein wenig vor wie am falschen Platz heute Abend. Wobei es sich jetzt, in Leanders Nähe, schon etwas richtiger anfühlte. Ich muss ihn vertreiben, schwappte es nachlässig durch meinen Kopf. Er darf nicht bei mir im Bett pennen. Das kann er vergessen. Doch ich vergaß es selbst. Und schlief ein, während unsere Hände so nah beieinanderlagen, dass sie sich berührten.
Plitschplatsch
Als ich am nächsten Morgen den großen Frühstückssaal im Gewölbekeller der Burg betrat, verwandelte sich das allgemeine Kichern vom Vortag in ein angeregtes Tuscheln. Ich war die Letzte, die eintrudelte, was mir sofort einen strengen Blick von Frau Dangel einbrachte. Nun begann auch sie, mit Herrn Rübsam zu tuscheln, doch er sah mich vor allem besorgt und nicht giftig an.
Leander und ich hatten ewig lange warten müssen (ich wach, Leander dösend und summend), bis Elena das Bad freigegeben hatte. Uns blieb nichts anderes übrig, als es gemeinsam zu nutzen, und es war um einiges kleiner als das Bad bei uns zu Hause. Leander ließ sich nicht davon abhalten, ausführlich zu duschen. Ich selbst roch noch gut genug, um darauf verzichten zu können. Doch dann bekam Leander ein Problem mit seinen Haaren. Sie saßen nicht so, wie er sich das vorstellte. Er meinte, das läge an der vielen frischen Luft hier oben auf dem Berg. Ich konnte keinen Unterschied zu vorher erkennen, musste ihm aber mindestens zehn Mal versichern, dass sie cool aussahen. Cool und sexy. Was ja auch unglaublich wichtig war, wenn ihn niemand sehen konnte außer mir. Und mir war es nun wirklich schnurzegal, ob die Strähne über dem Stirnband sich nach rechts oder nach links wellte.
Doch irgendwann hatte Leander sich mit seinem Spiegelbild zufriedengegeben und wir konnten nach unten gehen. Ich ignorierte das
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