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Verzwickt chaotisch

Verzwickt chaotisch

Titel: Verzwickt chaotisch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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froh, dass er die Gitarre auspackte. Wenn wir sangen, konnte wenigstens nicht getuschelt werden. Und das schummrige Licht verhinderte, dass ich mich zu sehr beobachtet fühlte.
    Wie die anderen setzte ich mich im Schneidersitz auf den Boden – etwas abseits neben dem Fenster in eine Ecke. Sofie folgte mir. Überall lagen Decken und Matratzen herum, doch mein Gesicht glühte und ich genoss die Kühle des nackten Steinbodens unter mir. Ich schloss für einen Moment erleichtert die Augen und sackte mit dem Rücken gegen die Wand. Durch meine geschlossenen Lider nahm ich wahr, dass es neben mir plötzlich dunkler wurde. Ein warmer Lufthauch traf meine Haut. Sofie, die zu meiner Rechten saß und schwer ihren Kopf gegen meine Schulter lehnte, erschauerte.
    »Weißt du, was ich denke? Dass irgendjemand gerade gestorben ist, wenn Kerzen ausgehen, obwohl kein Wind weht«, flüsterte sie mir ins Ohr. »Wie eben.«
    Nein. Da war niemand gestorben. Dessen war ich mir sicher. Denn das Wärmegefühl blieb und legte sich sanft über meinen nackten Unterarm und meinen Hals. Nun erschauerte auch ich. Keine Toten. Sondern ein übereifriger Schutzengel, samt Gitarre, die jetzt zu klimpern begann, zeitgleich mit Herrn Rübsams grobem Geschrubbe. Wenigstens hielt die Musik Leander davon ab, auch alle anderen Kerzen auszupusten wie damals an Weihnachten, als Mama beinahe den Verstand verloren hatte wegen Leanders unnötiger Löschaktionen.
    Herr Rübsam hatte uns schon heute Mittag damit gedroht, dass wir einige Songs von »Luzies Hippie-CD« singen und dabei unser Englisch aufpolieren würden. Auch das hatte die Hälfte der Klasse zum Kichern veranlasst. Leander hingegen musste glückselig sein, denn genau so hatte er sich das vorgestellt. Sofie raschelte mit dem Textblatt.
    »All the leaves are gone …«, sang sie inbrünstig, aber ähnlich falsch wie Herr Rübsam.
    »And the sky is grey …«, antwortete Leander melodisch. Wie immer, wenn ich seine leicht raue Stimme hörte, konnte ich spüren, dass sich die feinen Härchen in meinem Nacken aufstellten.
    »California dreaming«, schmetterten alle außer mir und Serdan. »On such a winter’s däää … ayyyyy!« Ich versuchte, mich auf Leander zu konzentrieren und auf nichts anderes, nicht auf das Gekrächze von Herrn Rübsam oder Seppo und Kelly, die sich gemeinsam über ein Notenblatt beugten.
    Beim Song Kaspar Hauser aus Herrn Rübsams Mundorgel fing Sofie an zu schniefen (»Das ist sooo traurig.«) und Leander lauschte aufmerksam, anstatt mitzusingen. Ich öffnete widerwillig meine Augen, die ich gerade wieder geschlossen hatte, weil sie ja doch andauernd zu Seppo und Kelly wanderten. Leanders Unterarme ruhten entspannt auf der Gitarre, doch sein Blick war weit weg – als würde er in seine Vergangenheit blicken. Worüber dachte er nach? Auch er wirkte traurig. Nein, das geht nicht, korrigierte ich mich. Er ist ein Wächter. Er weiß nicht, was das ist. Traurigsein. Er sieht nur so aus. Das ist alles. Doch ich glaubte kaum, was ich mir da zu sagen versuchte.
    Kurz bevor Herr Rübsam und Frau Dangel uns auf unsere Zimmer scheuchten (»Nachtruhe, Mädchen und Jungen!«), verschwand Leander. Ich merkte es als Erstes daran, dass ich zu frieren begann. Ob er nun mit den anderen Wächtern draußen herumschwirrte? Machten sie gemeinsame Freiflüge? Wahrscheinlich waren die übrigen Wächter schon aufgebrochen, sonst hätte er sich wohl kaum so ungezwungen zu uns gesetzt und mitgesungen. Wie damals an Weihnachten in der Kirche.
    Doch ich fror auch, weil ich völlig übermüdet war. Meine Knochen fühlten sich schwer an wie nach einem besonders harten Parkourtraining und ich musste im Minutentakt gähnen.
    »Ich wecke dich nachher, okay?«, raunte Sofie mir zu, als wir uns zwischen unseren Zimmertüren Gute Nacht sagten.
    »Hmhm«, machte ich und gestattete es, dass sie mir ein Küsschen auf die Wange drückte. Ohne Elena zu beachten – sie hatte sich hinter ihren Tüchern verschanzt –, schwang ich mich angezogen nach oben auf mein Bett und schlummerte sofort ein. Um Mitternacht war es so weit. Sofies Klopfzeichen ertönte. Verschlafen tapste ich ihr hinterher. Zielsicher, aber mit dem Finger vor dem Mund und auf Zehenspitzen führte sie mich zum Zimmer von Marvin und Leon.
    Drinnen blieb ich eine Weile gähnend stehen, um mich in Ruhe umzusehen. Die Luft war stickig und es roch nach Rauch. In der Ecke am geöffneten Fenster saßen Billy und Serdan und spielten Skat. Doch auf dem

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