Verzwickt chaotisch
nahe«, bestätigte Nathan mit erzwungener Ruhe. Nun pulsierte nicht nur mein Gesicht – nein, mein Puls war überall zu spüren, sogar in meiner Nasenspitze. »Es sei denn … Es sei denn, es war eine Berührung wie der Flügelstreif eines Schmetterlings, sacht und so unwirklich, dass das Menschenmädchen irgendwann glaubt, sie habe alles nur geträumt …«
»Nathan, wie redest du daher!?«, empörte sich Clarissa. Auch mir war trotz meiner Aufgewühltheit Nathans träumerische Wortwahl aufgefallen. Der Flügelstreif eines Schmetterlings. Taten das Wächter manchmal, wenn wir schliefen – sie berührten uns? Obwohl sie es eigentlich nicht durften? Und spürten es die Menschen – wie eine kleine, tröstende Geste? Doch solche Details waren jetzt nicht wichtig. Außerdem war es kein Flügelstreif gewesen. Sofie hatte sein Pfefferminzbonbon bemerkt. Ein Flügelstreif fühlte sich anders an. Leander hatte einen vollkommen wahrhaftigen Mund, Zähne und eine Zunge. Eine Zunge!?
»Leander!«, dröhnte Nathan noch einmal. Doch nichts regte sich. »Sagte Vitus nicht, er bleibe bei diesem Mädchen, um es zu beschützen? Und nun ist er nicht hier?«
»Na ja, sie schläft«, entgegnete Clarissa spitz. »Warum schläft sie überhaupt nachmittags? Machen Menschenmädchen das in diesem Alter? Teenager schlafen doch nachmittags nie, schon gar nicht auf Klassenfahrten. Vielleicht ist sie krank?«
Ich spürte, wie sich beide über mich beugten – eine unangenehm prickelnde Wärmewand. Ich versuchte angestrengt, nicht zu blinzeln.
»Wangen rot gefleckt, Schweißansatz auf der Stirn, erhöhte Pulsfrequenz, aber kein Fieber. Verliebt, schätze ich«, diagnostizierte Nathan. »Mit leichten Tendenzen von Liebeskummer. Leicht bis mittelschwer.«
»Pffft«, machte Clarissa abfällig. Aha. Von ihr hatte Leander das also. »Nathan, uns rennt die Zeit davon. Wir wissen nicht, ob Leander seinen Körper noch hat oder nicht. Lass uns einen schnellen Blick auf Sofie werfen und sehen, welchen Schaden er angerichtet hat. Und dann müssen wir über ein weiteres Disziplinarverfahren nachdenken. Wir könnten ihn nach Afrika verschicken. Oder nach Tibet. Weit, weit weg.«
Bitte, dann tut das doch, dachte ich wütend. Schickt ihn mitten in den Kongo, wo er in gärenden Sümpfen von Moskitos zerstochen und Schlangen gebissen wird. Leander hatte vor Kurzem begeistert von einem Tier namens Penisfisch erzählt, der irgendwo im Dschungel lebte und den Männern in die Harnröhre kroch, wenn sie im Wasser badeten. Dort verursachten diese Fischlein unerträgliche Schmerzen und wanderten durch den gesamten Körper, wenn sie Lust dazu hatten. Vielleicht hatte ich Glück und Leander fiel genau einem solchen Fisch zum Opfer. Ich gönnte es ihm.
»Lass uns rasch handeln, bevor unserer Truppe durch unsere Abwesenheit neue Schmach widerfährt«, beschloss Nathan eilig. Dann ertönte ein Geräusch wie eine explosive Verpuffung und Stille senkte sich über mich herab. Sie waren weg. Ich hätte aufspringen und Leander warnen, nach Sofie sehen müssen, doch ich blieb liegen und fühlte mich, als könne ich mich nie wieder bewegen.
»Es war schön«, hatte Sofie gesagt. Der Kuss war schön gewesen. Heute Nacht noch hatte ich mir gewünscht, dass die anderen Leander sehen und hören könnten. Dabei hatte Sofie ihn längst gefühlt. Deshalb war er so seltsam verändert gewesen, als er neben mir auf dem Bett gelegen und mich angeschaut hatte. Er musste gerade erst von seiner Kussexpedition zurückgekehrt sein. Daher sein wirres Gefasel von Wärme und dass nicht alles an unserem menschlichen Körper schlecht sei …
Ich hatte insgeheim geglaubt, er meinte mich damit. Meine Wärme. Ich hatte das zwar nicht zugeben wollen, aber so war es gewesen. Nur aus diesem Grund hatte ich seine Augen berührt. Dabei hatte er während seines ganzen Monologs keine Sekunde an mich gedacht. Sondern nur an Sofie.
Wie ist er nur auf so eine bescheuerte Idee gekommen?, fragte ich mich zornig und drehte mich mit brennenden Augen auf den Rücken. Doch nur wenige Momente später fiel es mir ein. Klasse gemacht, Luzie. Ich knallte mir beide Hände auf die Wangen. Ja, ich gehörte geohrfeigt. Denn niemand anderes als ich war es gewesen, der Leander auf diese Idee gebracht hatte. »Man merkt beim Küssen, ob man verliebt ist oder nicht«, hatte ich zu ihm gesagt.
Und dieser gehirnamputierte Körperwächter interpretierte das natürlich sofort als Aufforderung. Er küsste das nächstbeste
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