Verzwickt chaotisch
wollen – wieso regst du dich darüber auf? Du hast mir doch beigebracht, wie man das macht – gute Freunde zu verraten!«
Ich jagte an ihm vorüber zu meinem Zimmer. Nix wie weg.
»Du verstehst nicht, was mir das hier bedeutet!«, brüllte mir Seppo hinterher. Seine Stimme hallte in meinem Kopf nach, bis ich unter der Dusche stand und mir eiskaltes Wasser auf das Gesicht prasseln ließ. Oh, ich verstand Seppo sogar sehr gut. Es ging ihm um Kelly. Kelly war das ›alles‹. Er wollte Kelly begrapschen. Und ich hatte es ihm kaputt gemacht. Serdan musste gelogen oder sich kolossal geirrt haben, als wir uns im Frühjahr unterhalten hatten, unten am Rhein. Dieser verflixte Nachmittag, an dem Vitus mich allein gelassen hatte. Niemals konnte Seppo in mich verknallt gewesen sein. Das ging überhaupt gar nicht.
Ich beeilte mich, denn ich wollte vor dem Essen noch Serdan abfangen. Die Vorbereitungsphase war beendet, nun sollte die Offensive beginnen. In wenigen Minuten hatte ich mich geduscht, abgetrocknet, meine Haare trocken gerubbelt und mir schwarze Klamotten angezogen – so wie Serdan und ich es ausgemacht hatten.
Ich fand ihn im Gemeinschaftsraum, wo er für unsere Choreografie mit reflektierendem Band Markierungen auf die Bühne klebte. Denn nachher würde es dunkel sein, wenn wir anfingen, und es war hilfreich zu wissen, wo ich dann stehen musste, bevor wir uns beim Tanzen noch gegenseitig über den Haufen rannten.
Er blickte nicht auf, sondern riss mit den Zähnen ein weiteres Stück Band ab, das er sorgfältig auf den Boden heftete.
»Du musst Sofie küssen. Bitte«, sagte ich atemlos. Serdan hielt kurz inne. Doch er strich erst gründlich den Klebebandstreifen fest, bevor er langsam seinen Kopf hob und mich so verwirrt ansah, dass ich beinahe kichern musste. Seine schwarzen Augen aber schauten beklemmend ernst.
»Serdan, ich weiß, dass du nicht redest, ist okay, du musst auch nicht reden. Du musst sie nur küssen. Jemand hat sie heute Nacht geküsst und sie denkt, du warst es, sie ist verknallt in dich. Und ich möchte, dass ihr zusammen seid. Damit alle es sehen. Alle!« Vor allem Leander, dachte ich und merkte, dass meine Mundwinkel sich verkrampften. Serdan hörte nicht auf, mich anzusehen.
»Bitte, Serdan, du hast doch gesagt, wir sind eine Familie und dass man sich in einer Familie gegenseitig hilft, weißt du noch? Ich tu im Gegenzug auch was für dich, sag mir nur was, aber das mit Sofie, das – es geht nicht anders. Sie ist doch ganz hübsch, gut, ein bisschen mollig, aber das wächst sich aus, sagt meine Mutter, und du musst ja nicht hingucken, nur …« Ich konnte mir selbst nicht mehr zuhören. Das war ja grässlich, was ich da von mir gab. Vor allem aber konnte ich Serdans tiefem, forschendem Blick kaum mehr standhalten. »Bitte küss Sofie«, flüsterte ich.
»Nein, Luzie. Wenn ich jemanden küssen möchte, dann bist es du.«
Ich erschrak so sehr über Serdans unerwartete Worte, dass ich das Gleichgewicht verlor und beinahe hintenüber von der Bühne stürzte. Doch Serdan streckte zielsicher seinen Arm aus und brachte mich wieder in die Balance. Meine Beine zitterten. Unsicher ging ich in die Hocke, um auf der gleichen Höhe mit ihm zu sein. Was war das denn bitte gewesen?
»Du … du sprichst …«, stotterte ich. Und er hatte eine völlig andere Stimme bekommen. So tief und – erwachsen. Er klang wie sein Vater. Nur ohne türkischen Akzent. Und was hatte er überhaupt gesagt? Dass er mich küssen wolle? Mich? Er redete wochenlang nichts und das Erste, was er zu mir sagte, war, dass er mich küssen wolle? »Du sprichst«, wiederholte ich matt, als könne es ungeschehen machen, was er gerade gesagt hatte. Nämlich etwas völlig Unglaubliches.
Serdan legte die Klebebandrolle ab, blieb aber auf dem Bühnenboden sitzen. Er hob kurz die Schultern an – sein typisches gleichgültiges »Ishaltso«.
»Ich war im Stimmbruch. Aber ich glaub, jetzt ist es besser geworden. Kiekst nicht mehr so oft. Und ich küsse Sofie nicht.« Er stand auf, sprang federnd von der Bühne, tippte sich grüßend an die Schläfe und lief nach draußen.
»Scheiße«, fluchte ich und rieb nervös über meine Stirn. Da waren zu viele Gedanken in meinem Kopf. Ich musste Ordnung schaffen. Sonst würde ich noch so verrückt werden, wie ich in den Augen der anderen längst war.
Serdan war also im Stimmbruch gewesen und hatte sich geschämt zu sprechen? Das leuchtete mir nicht ein. Er hatte doch vorher schon eine recht
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