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ihnen ihre Narrheit in so einfachen Worten, daß selbst ein Dreijähriger sie verstanden hätte. Aber nein, sie waren ganz ineinander versunken. Ich war schon soweit, sie beide durchzuprügeln, und - wenn das auch nichts nützen sollte - sie zu binden und ihnen zu drohen, sie ins Meer zu werfen. Aber Anna belehrte mich eines Besseren. Außerdem hätte es auf Band sicher abstoßend und erbärmlich gewirkt. Schließlich machten die beiden ganz und gar nicht den Eindruck, Kampfgegner für mich zu sein. Sie aßen kaum etwas, schliefen viel zu wenig, sahen krankhaft blaß und blutleer aus und zitterten in bisher nicht gekannter Weise am ganzen Leib. Wir hörten, wie sie manchmal im Schlaf vor sich hin murmelten: Wortfetzen, die sie auf gräßliche Weise jeweils mit der Stimme des anderen hervorstießen.
Wir entschieden uns, abwechselnd schlafen zu gehen. Nachdem die beiden ihre Entscheidung bekanntgegeben hatten, blieben Anna und ich bis in den folgenden Tag hinein wach und führten lange und fruchtlose Diskussionen darüber, wie man Moses und Armbruster dazu bringen konnte, mit ihrem Wahnsinn aufzuhören. Ich gab dem Professor die ganze Schuld, denn meiner Meinung nach konnte nur es den Transfermechanismus entwickelt haben. Das Neutrum hatte enorme Kenntnisse bezüglich der chemischen Basis, auf der Gehirnprozesse vonstatten gehen. Zum Beispiel hatte es Tanglins Gedächtnislöscher programmiert. Ich war mir ziemlich sicher, daß es sich bei dem bevorstehenden Geistesaustausch um etwas viel Tiefgreifenderes handelte als eine bloße gegenseitige Hypnose oder Suggestion. Der geheimnisvolle Armbruster-Körper hatte ganz sicher eine Menge damit zu tun. Wenn diese Struktur DNS-Ketten einschließen konnte, warum nicht auch RNS-Stränge, die Basis der Erinnerung? Armbruster mußte eine Methode gefunden haben, die Struktur zu aktivieren und sie so agieren zu lassen, wie es dies wünschte. Wer sollte also mehr qualifiziert sein, einen Persönlichkeitsaustausch durchzuführen, als der Erfinder einer solchen Methode?
Die beiden Alten gingen ein riskantes und beispielloses Wagnis ein. Nur die unübersehbaren Vorboten ihres eigenen Todes konnten sie dazu getrieben haben. Moses und Armbruster waren alt und verbraucht. Sie begegneten den furchtbarsten Herausforderungen ihres Lebens, ohne mit ausreichendem Selbstvertrauen und der nötigen Energie dagegen gewappnet zu sein. Aber sie waren zu stolz, zu gerissen und zu starrköpfig, um sich dem Tod schon zu ergeben. Sie hatten nur noch eine Chance, die verlorene Tatkraft zurückzuerlangen: die Verschmelzung ihrer Persönlichkeiten. Ihre neuen, verbundenen Geister würden die Welt mit frischeren Augen sehen, würden den unangenehmen Stillstand eines sehr hohen Alters überwinden.
Andererseits begaben sie sich mit diesem Transfer freiwillig in das Reich des Wahnsinns, ohne die Garantie eines erfolgreichen Ausgangs. Doch der Professor und der Gründer blieben stur und wollten dieses Risiko eingehen, ganz gleich, ob sie damit auch die Zukunft von Anna und mir aufs Spiel setzten.
Ohne mit den beiden noch ein Wort zu wechseln oder irgendeine Übereinkunft zu treffen, trennten wir vier uns. Moses und Armbruster nahmen das Arbeitszimmer in Beschlag. Nur in den kurzen Momenten, in denen wir unsere Mahlzeiten erhitzten, was meist geschah, wenn die beiden Alten schliefen, kamen Anna und ich in diesen Raum. Wir beide zogen auf die Lebenslast der Insel um, weit genug fort, um der unerträglichen Last der Anwesenheit der anderen zu entgehen.
Innerhalb von zwei Tagen hatte das Leben die Insel wie ein Buschfeuer überzogen. Ein kurzes, ephemerisches und zartes, dafür aber um so wilder wucherndes Leben. Am bemerkenswertesten war vielleicht der Schimmel- und Mooswuchs. Das meiste davon mußte aufgrund von Sporen entstanden sein, die durch die Luft gekommen waren. Einen nicht geringen Teil an Samenkörnern hatten die Vögel herangetragen. Anna und ich entdeckten im Schlamm die Spuren dreizehiger Würger. Binnen Stunden waren sie von einem hellen, orangefarbenen Belag bedeckt. Am Abend des zweiten Tages hatte grünes Moos die gesamte Schlammfläche überzogen, und solange man nicht drauftrat, gewann man den Eindruck, auf eine Wiese zu blicken. Unter unseren Füßen pulverisierte sich das Moos. Verwickelte rote Moose gediehen in dichten Klumpen an den dicksten Stützkabeln, und bläulichweiße Pilze sprossen verschwenderisch und breiteten sich von einem Tag auf den anderen in immer größeren Hexenringen
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