Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Video-Kid

Video-Kid

Titel: Video-Kid Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
Vom Netzwerk:
aus. Auch diese atollartigen Gebilde waren viel zu zart. Schon bei der leichtesten Berührung zerbröselten die Pilze.
    Insekten erschienen in ungeheurer Menge. Zuerst war es nur eine lästige Mückenplage, doch schon nach wenigen Stunden am dritten Tag waren sie überall. »Wie ein Dauerregen«, sagte Anna. Als die Sonne unterging, waren sie samt und sonders spurlos verschwunden. Neben den Mücken und ähnlichem Getier flogen hier auch ziemlich große Fliegen herum, und kleine, runde, schillernde Käfer, kaum größer als der Nagel meines kleinen Fingers, bevölkerten den Boden. Hin und wieder sahen wir eine Libelle. Sie gehörte zu der Art, die Meere überfliegen kann, und war so lang wie ein Unterarm. Einmal entdeckte ich sogar eine winzige Gottesanbeterin. Ich werde wohl nie erfahren, wie sie mit ihren schwächlichen kleinen Flügeln in eine solche schwindelerregende Höhe gelangen konnte.
    Am Abend des dritten Tages stieß Anna auf eine Reihe feuchter Spuren im trockenen Schlamm. Sie gehörten einem großen, vierbeinigen Tier. Die Eindrücke der stumpfen Pfoten waren so breit wie meine Hand. Die Spuren führten zum Rand der Insel und hörten dort abrupt auf. Wir sahen sie nie wieder.
    Kurz vor dem Morgengrauen des vierten Tages erschien Armbruster Moses, wie das Neutrum sich jetzt nannte, um uns zu wecken. Es ging dabei weniger liebevoll als vielmehr zärtlich vor, indem es einfach an den Kabeln zog, zwischen denen Anna und ich unsere Hängematten aufgespannt hatten. Ich fuhr hoch und schaltete meine Kameras ein. Meine Miene war finster, als ich das Neutrum ansah. »Aha«, bemerkte ich säuerlich, »da sind wir ja wieder auf der Bühne des Lebens vereint, was?«
    »Sinnlose Zynismen nutzen uns jetzt herzlich wenig, Kid«, sagte es milde. Seine Stimme klang wie die verzerrte Fassung von Moses Moses. Das Neutrum hatte mich noch nie Kid genannt. Erst in diesem Augenblick wurde mir, dessen Augen noch schwer wie Blei waren, und der sich irgendwie miserabel fühlte, klar, daß mein alter Tutor tot war. »Was getan ist, ist getan«, sagte es. Es war dem Tod von der Schippe gesprungen, hatte dafür aber einen hohen Preis bezahlen müssen. Sein altes Ich war zerstört. Der alte, kräftige Körper wurde nun von einer merkwürdigen, zusammengesetzten Persönlichkeit bewohnt. Armbruster Moses wirkte noch matt, aber nicht ungesund, vielmehr wie jemand, der gerade eine schwere Krankheit überwunden hat.
    »Ruhig jetzt«, sagte es. »Hört ihr das Donnern der Brandung?«
    Ich lauschte, und dann hörte ich tief unter uns das Grummeln. Meine Erinnerung trug mich zurück an den Strand von Telset. »Ja«, sagte ich und sprang aus meiner Hängematte. Erst jetzt regte sich Anna und rieb sich die Augen.
    »Springen wir jetzt?« fragte ich. »Ist alles bereit?«
    »Alles ist bereit, aber leider hat uns ein unvorhergesehenes Ereignis einen Strich durch die Rechnung gemacht«, sagte
    Armbruster Moses. »Eine dicke Wolkendecke liegt tief über der Küste. Wir können nicht blind abspringen; wer weiß, wo wir da hingelangen. Je nachdem geraten wir in die Brandung, die uns gegen die Klippen wirft und zerschmettert.«
    »Und was machen wir nun?« wollte Anna wissen.
    »Die Insel trägt uns ins Inland«, sagte Armbruster. »Eigentlich können wir genausogut nach oben auf die Spitze gehen. Wenn wir irgendwo ein Loch in der Wolkenbank entdecken, springen wir sofort ab. Moses Armbruster hat vor etwa einer Stunde eine Sternmessung vorgenommen. Er meint, wir sollten bald den östlichen Rand der Masse überquert haben.«
    »Sicher wird die Morgensonne die Wolkendecke auflösen«, sagte Anna hoffnungsvoll.
    »Vielleicht«, meinte Armbruster.
    Wir folgten dem Neutrum über die Strickleiter ins Arbeitszimmer. Moses Armbruster war dort, drehte kleine Stückchen von perlenbesetztem Draht in den plumpen Fingern und studierte das gewundene, glänzende Gebilde vor sich. Jemand hatte den kleinen Raum ausgefegt und peinlich genau in Ordnung gebracht. Fast schien es so, als sei ein Putzteufel in dieses Zimmer gefahren. Sogar Moses Armbruster wirkte ungewöhnlich gepflegt und adrett. Er trug einen reichverzierten Gürtel, an dem blitzblanke Werkzeuge und Instrumente hingen. Seinen Einteiler hatte er abgebürstet, bis kein Fädchen mehr daran zu entdecken war, und den Bart hatte er sauber geschnitten und gekämmt. Selbst in seinen runden gelben Augen glimmte ein ungewöhnlicher Funke; sie strahlten eine Lebendigkeit und geistige Frische aus, die mir Übelkeit

Weitere Kostenlose Bücher