Video-Kid
erinnerte, er wußte offensichtlich auch, daß es uns im Augenblick nichts nutzen konnte, Druck auf den alten Scheinberg auszuüben. Dem Hausherrn war die Situation immer noch nicht klar.
Hätte er sie erkannt, wäre er augenblicklich vor Panik und Ehrfurcht vergangen. »Ja, er war mein Lieblingsdichter.«
»Das weiß ich«, sagte Scheinberg und verfiel wieder in sein Endlos-Nicken. »Ich habe alle seine übriggebliebenen Werke in meiner Bibliothek, unter anderem die komplette Edition deiner Neuausgabe. Du hast ihn dem Vergessenwerden entrissen.«
»Ja«, meinte Moses Moses. »Es war ein großes Glück, daß ich das alte Mikroband fand.«
Scheinberg lächelte. »Du bist wie ich ein Antiquar! Die fliegenden Inseln der Nacht sind das längste uns erhalten gebliebene Werk. Erinnerst du dich noch an diese Verse:
Versuche mich nicht, o Prinz, Du gnadenfeiner,
Mit Deiner Stimme, so köstlich und noch reiner.
Wohl mag meine Stirne ertragen der Krone Loderkranz,
Doch unten ich zu Deinen Füßen, muß beugen sich ihr Glanz.
Mögst aus dem Staub Du mich erhöh'n ins süße Licht,
Ins Glück mich erheben, ich widerstehe nicht.
»Wie könnte man so etwas je vergessen?« seufzte Moses Moses. »Das ist doch die Szene im ersten Akt, in der die Königin Zanks Pritzgift auf den Fürsten von Juckingen, ihren Sohn, trifft.« »Zanks Pritzgift?« entfuhr es mir. »Juckingen?« »Ja«, sagte Moses fröhlich. »Wundervolle Namen, nicht wahr? So beschwörend, so aussagekräftig.« Sanktanna und ich warfen uns verdutzte Blicke zu. Anna sah so aus, als hätte sie den Mund voll von einem unappetitlichen Mus und suche nach einer Gelegenheit, es auszuspucken. »Nicht zu vergessen die majestätischen Verse zu Beginn des ersten Aktes«, fuhr Moses fort und rezitierte:
Geschleudert tief von Deiner beleid'gten Augen Schein,
Von Dir fort, o Aeo, welch grenzenlose Pein,
Wohnt inne ach uns, o Schwesternschaft der Sünde.
Wohl Dir zu dienen, ist doch mein Recht allein,
Und so süß, wie ich die Pflicht empfunden,
Soll uns der Sünde Myrtenduft munden.
Nun, o Kaiserin der Sünde, den Beginn meines Reiches verkünde!
»Einfach unerreicht«, sagte Scheinberg. »Zanks Pritzgift, das erste Geschöpf von Lord Aeo, steigt der Stolz über ihre eigene Schönheit zu Kopf, sie revoltiert und wird aus dem Himmel verbannt! Was für eine Imaginationskraft! Welch gewaltiges kosmisches Denken! Ich glaube nicht, daß es je in aller Literatur ein ähnliches Werk gegeben hat.«
»Hast du ›Aeo‹ gesagt?« fragte ich. »Ich habe mich schon oft darüber gewundert, wie jemand einem hilflosen, unschuldigen Kontinent wie dem unseren einen solchen Namen verpassen konnte.«
Moses Moses runzelte die Stirn. »Wie darf ich das verstehen? Dieser Name ist perfekt. Er rollt glatt und mit übermenschlicher Majestät von der Zunge und klingt nach. Du mußt ihn nur einige Male hintereinander aussprechen: Aeo, Aeo, Aeo. Makellos.«
Ich zuckte die Achseln. »Wenn ich eine so ungeheuer große Landmasse wäre, würde ich schon um meiner Würde willen wenigstens einen Konsonanten verlangen.«
»Wie mir doch alles wieder einfällt«, sinnierte Scheinberg. »Ich habe Riley seit hundert Jahren nicht mehr gelesen. Ist es nicht wunderbar, wie die Erinnerungen in Augenblicken wie diesen wieder auftauchen? Wie Riley es auch schon ausdrückte: ›Aller Verheerung Spannung liegt in den Drogen.‹«
»Ich muß gestehen, daß ich meinen Riley etwas vernachlässigt habe«, sagte Moses und zog beschaulich die Brauen zusammen. »Sein Werk habe ich seit zwanzig Jahren nicht mehr gelesen, subjektive Zeit natürlich. Wenn ich daran denke, wie seine Reime mich in meiner Jugend inspiriert haben, damals, als die Korporation nur aus mir und drei Männern in einer Kneipe bestand! Ich muß sagen, lieber Scheinberg, ich bin froh, dich getroffen zu haben, trotz der Umstände. Du hast mich an mich selbst erinnert.«
»Das ist doch gern geschehen«, meinte Scheinberg großmütig und zappelte in seinem Sessel herum. »Darf ich mir erlauben, dich nächste Woche hierher zum Frühstück einzuladen? Meine Gäste würden dich sicher faszinierend finden. Sie begegnen nicht oft einem Toten.«
Die sprichwörtliche und leichtzüngige Schlagfertigkeit Scheinbergs war in unserer mißlichen Lage fehl am Platz. »Hört mal«, sagte ich daher nur, »wir sollten uns lieber Gedanken über unsere Flucht machen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Kabale hier nach uns suchen
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