Video-Kid
Dann gibt es noch schmale und tiefe Fjorde, und nicht zu vergessen die Stromschnellen. Das Flußwasser ist dunkel und sehr kalt.
Jeden Morgen und jeden Abend peitschen und heulen pünktlich zum Sonnenaufgang und -untergang wilde Winde durch die Täler. Wenn man genau hinhört, kann man Stimmen in dem Heulen ausmachen, aber es empfiehlt sich nicht, ihnen zuzuhören. Die Winde reißen alles mit, was ihnen in die Quere kommt. Daher bestehen die Pflanzen am Talboden fast nur aus Wurzeln. Sie sind klein und zäh und knorrig, aber wenn ihre Samen an einer windgeschützten Stelle landen, entwickeln sich daraus hohe Gewächse und harte, bunte Blumen, mit deren Blütenblättern man Glas schneiden kann.
Selbst als kleines Mädchen habe ich den Talgrund nicht gemocht. Alles ist so dunkel dort, und die Felswände sind so hoch. Mich hat es immer mehr ins Moor gezogen. Auch dort ist es ungemütlich, und der Wind bläst ohne Pause. Aber er weht gleichmäßig, nicht mit der mörderischen Wildheit wie in den Schluchten. Und das Moor ist offenes Land. Man sieht die Sonne und die dicken, düsteren Wolken und das kniehohe Gras. Man riecht den Duft der kleinen Blumen und man entdeckt die Insektenwelt: Käfer, Grashüpfer und Fliegen, Murmeltiere, Kaninchen und Ziegen, und natürlich Moas. Die Moas sind das Schönste im Moor.« Anna streckte eine Hand aus und berührte den durchweichten Klumpen der dunklen Federn in ihrem Haar.
»Ich war ein braves Mädchen, und ich begriff die Wahrheit des Katechismus beinahe von Anfang an. Ich stellte mich gelehriger und verständiger an, als man von mir erwartete. Bis zum Alter von zehn Jahren blieb ich fast immer im Hochaltar, denn ich war ein illegales Kind, und die alten Vorsichtsmaßnahmen halten sich zäh. Aber nach einer Weile gab man mir eine erfundene Identität. Ich bereitete mich auf die Weihe vor, erhielt sie und bekam meinen Namen als vollwertiges Gemeindemitglied: Anna.
Danach erlaubte man mir, den steilen Pfad vom Talboden zu den Mooren hinaufzusteigen, wo ich mit meinen Onkeln und Vettern in den Treibhäusern arbeitete. Während der Gebete am Morgen und am Abend, wenn die Winde durch die Canyons pfiffen, konnte ich hinaus aufs Moor und meditieren. Meinen ersten Moa sah ich im Alter von zwölf Jahren. Es war ein alter Moa, ein altes weibliches Tier mit verschmutztem Gefieder und dicken, schwabbelnden Kehllappen. Ich wanderte gerade im Moor umher, und das tat er auch. Obwohl meine Mutter mir erzählt hatte, daß in den ersten Tagen des Hochaltars ein Kind von großen, wilden Moas zu Tode gepickt worden war, hatte ich in diesem Moment keine Angst. Der Moa übrigens auch nicht. Das Tier zog sich nur vorsichtig zurück und rannte dann mit seinen schweren und langen geschuppten Beinen über das Gras davon.
In jener Nacht träumte ich von einer Wanderung über das Moor. Bald geriet ich an eine Senke, die wie eine grasbewachsene Schüssel aussah. Ich träumte weiter, daß im Zentrum der Senke ein ziemlich großer Kreis von zerstampfter Erde war, wie ein riesiges Rad mit acht Erdspuren als Speichen. Und in diesem Traum rief mir eine Stimme zu, ich solle ins Zentrum des Rades treten. Doch gerade, als ich meinen Fuß auf den Radrand setzte, wachte ich auf.
Am nächsten Morgen erzählte ich meinem Onkel von dem Traum. Wir Eingeweihten der Kirche wissen um die Bedeutung der Träume. Sie kommen aus den Tiefen der Seele und sind deshalb der Großen Seele nahe, die unser Bewußtsein und unsere Träume steuert. Der Onkel und ich zogen unsere schweren Stiefel an, nahmen unsere Wanderstäbe und gingen hinaus aufs Moor, um das Rad zu finden. Am zweiten Tag entdeckten wir es. Es handelte sich dabei um einen Tanzgrund der Moas. Nur wenige Menschen haben so etwas schon einmal zu Gesicht bekommen. Der Onkel und ich sahen die Spuren ihrer dreizehigen Füße in dem zerstampften Boden, und wir entdeckten auch die sonderbaren flachen Pilze, die rund um den Rand des Rades im Dung der Moas wachsen.
›Ich wußte, daß wir ihn finden würden‹, sagte mein Onkel. ›Der Katechet, dein Ururgroßvater, erträumte den Standort des Hochaltars, lange bevor wir ihn gebaut hatten, und deine Großmutter, meine Mutter, erträumte die Lage der Eisenhöhlen, lange bevor der große Erdrutsch sie enthüllte. Nun mußt du in dein Herz sehen, Kind, und mir sagen, was wir weiter zu tun haben.‹
Eine Weile kniete ich mich ins Gras und betete, bis die Antwort kam. Und ich sprach: ›Onkel, du mußt mich nun verlassen, und ich
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