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Seite der Medaille. Man nennt sie Hyperas. Abgeleitet von dem Begriff Hyperästhesie.
In gewisser Hinsicht ist die Hyperas viel schlimmer als die Panan. Anstatt abwesend zu sein, erlebt man eine krankmachende Nähe. Statt sich betäubt zu fühlen, ist man hypersensitiv. Geflüster hört sich an wie Gebrüll, Gebrüll ähnelt einem Erdbeben. Die weichsten Kleider kratzen unerträglich. Die wunderbarsten Speisen schmecken überladen, bereiten einem Übelkeit. Man bemerkt auf einmal alles, selbst Kleinigkeiten, die einem nie zuvor aufgefallen sind. Nicht nur die Gesichter anderer Personen sieht man intensiver, man bemerkt auch die unreinen Klumpen in ihren Poren, die Stoppeln auf ihrer Haut, den Spliß in jedem ihrer Haare. Man erlebt die kleinsten und flüchtigsten Eindrücke intensiv. Leute, die sich tölpelhaft wie Clowns aufführen; Leute, die durch ihre Gesten und Worte alles zunichte machen, Stimmungen verderben. Man weiß, was sie sagen, bevor sie es ausgesprochen haben; man weiß, was sie tun, bevor sie es getan haben. Im Grunde genommen erleben fast alle alten Leute solche Phänomene; das liegt an dem reichen Erfahrungsschatz, den sie gesammelt haben. Nur entwickeln sich in der Hyperas die Wahrnehmungen so stechend scharf, daß man in anderen Personen keine Menschen mehr erkennen kann, sondern nur noch programmierte Roboter. Man erkennt keinen eigenen freien Willen mehr in ihnen und muß plötzlich feststellen, daß sie nie einen gehabt haben.
Man nimmt so viele winzige Details wahr, daß man unter dem Ansturm der Informationen zu ersticken droht. Und das treibt einen in den Wahnsinn, zwingt einen, die gewohnten Aufenthaltsorte zu verlassen und sich an Orte zurückzuziehen, zu denen nur wenige andere Menschen gelangen, besser noch niemand. Am idealsten ist ein leerer Raum, in dem auch keine Möbel oder sonstigen Einrichtungsgegenstände die Aufmerksamkeit erregen können. Ich habe einen solchen leeren Raum aufgesucht, aber dort wurde ich auf unerträgliche Weise vom Putz der Wände, vom Webmuster der Decken auf meinem schlichten Bett, von den Staubkörnern in der Luft und selbst vom Klingeln in den Ohren gefangengenommen. Während einem der schlimmsten Hyperas-Anfälle floh ich in einen isolierten Tank, der dazu angelegt ist, die Sinne auszuschalten. Nichts als warmes Salzwasser, Schweigen und Dunkelheit waren um mich herum. Das schien zu funktionieren, ich beruhigte mich. Aber als ich den Tank verließ, war ich wieder ein Opfer der Panan. Von dem Zeitpunkt an wechselten diese beiden Stadien einander ab, manchmal sogar innerhalb eines Tages. Als mir klar wurde, daß mir bald nur noch der Selbstmord als Ausweg blieb, beschloß ich, den Zeitpunkt meiner endgültigen Konfrontation mit dem Tod zu verschieben, indem ich mich einfrieren ließ. Ich begann mit der Konstruktion meiner Kryogruft. Diese Arbeit lenkte mich ab, und ich gewann meine geistige Gesundheit wieder. Ich denke, der Kryoschlaf ist dem Tod so ähnlich, daß mein selbstzerstörerischer Trieb sich damit zufriedengab und mir eine Erholung von den selbstzugefügten Qualen gönnte. Ich entschied mich für ein in meinen Augen signifikantes Wiedererweckungsdatum, und ich sagte mir, die Veränderungen in einer fernen Zukunft würden ausreichen, mich abzulenken und mir ein paar weitere Lebensjahrzehnte zu ermöglichen. Sobald die Panan zurückkehrte, würde ich mir entweder das Leben nehmen oder in meine Gruft zurückkehren. Auf diese Weise hätte ich mein Leben bis ins Unendliche verlängern können. Natürlich spielte auch die Eitelkeit dabei eine gewisse Rolle. Kurz gesagt, ich wollte sehen, wie lange mein Gesellschaftsmodell Bestand haben würde. Und die Neugierde ist ein starkes Motiv zum Weiterleben. Mein Interesse war geweckt, die Apathie verpuffte. Also habe ich mich in das Kryo-Grab gelegt. Allerdings hätte ich eine Entwicklung wie die heutige nie erwartet, obwohl ich auch auf ein Desaster gefaßt war. Wie ihr wißt, habe ich mich unter dem offiziellen Grab verborgen. Aber so etwas wie heute hätte ich nie erwartet.« Er schüttelte den Kopf. »Zumindest bewahrt mich diese Entwicklung vor der moralischen Verpflichtung zum Selbstmord. Eine ganze Reihe von Leuten hat mir erklärt, der Selbstmord, die vorsätzliche und bewußte Selbstvernichtung, sei die einzige Möglichkeit, mit Würde zu sterben. Aber dieser Meinung mochte ich mich nie anschließen. Für mich ist der perfekte Tod der, der schnell und ohne Warnung kommt, wie damals der Laserunfall
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