Viel zu lange her
Abschiedskuss? Jetzt schon? Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Als er sich zu ihr beugte, sah sie einen Moment den Ausdruck innerer Qualen in seinem Gesicht.
„Du musst nicht weggehen, Isaac”, flüsterte sie.
Er stockte und sah sie durchdringend an. Doch dann schüttelte er den Kopf. Seih Griff an ihren Schultern war fast schon schmerzhaft.
Er küsste sie kurz auf den Mund.
„Leb wohl, Tess. Ich hoffe, es klappt mit der Schule. Die Kinder werden froh und dankbar sein, dich als Lehrerin zu behalten. Mach weiter so.”
Damit drehte er sich um, pfiff Satan und ging rasch zu seinem Wagen.
11. KAPITEL
Tessa stand bedrückt auf dem Bürgersteig. In der letzten Woche hatte sie einen Aufruhr der Gefühle erlebt, unterbrochen von kurzen Momenten des Glücks. Jetzt lagen nur noch lange, einsame Jahre vor ihr.
Es war grausam von Isaac, für fünf kurze Tage in ihr Leben zurückzukehren, ihre Welt auf den Kopf zu stellen und danach wieder zu verschwinden. Wie konnte er sie verlassen, hatte sie doch ihren Eltern und Alice gestanden, dass sie ihn liebte und nie aufgehört hatte, ihn zu lieben? Und sie war dumm genug gewesen, zu glauben, er würde sie auch noch lieben und hätte sie immer geliebt.
Wie albern diese Hoffnung gewesen war, erkannte sie mit jedem von Isaacs Schritten deutlicher.
Seine Worte über den Abstand, den er ihr und ihren Angehörigen bot, hatten edel geklungen.
Vielleicht hatte er sich sogar selbst eingeredet, dass er deshalb wegging. Doch Tessa war überzeugt, dass er vor ihr davonlief. Und diesmal würde er nicht zurückkommen.
Tränen flössen aus ihren Augen. Sie blickte auf ihre Schuhe, denn sie konnte nicht zusehen, wie er wegfuhr.
Sie hörte, wie die Tür seines Wagens zuschlug, und wartete darauf, dass der Motor ansprang und die Reifen auf dem Kies knirschten.
Doch nichts war zu hören.
Stattdessen ertönten zwei scharfe Pfiffe. Neben ihr bewegte sich etwas auf dem Bürgersteig.
Sie blickte nach unten. Satan saß noch immer neben ihr. Bei den Pfiffen spitzte der Hund die Ohren, rührte sich jedoch nicht von der Stelle.
„Satan”, flüsterte sie, „das war dein Marschbefehl. Du musst gehen.”
Der Hund richtete den Blick seiner klugen braunen Augen auf sie und blieb stehen.
„Komm her, Junge!” rief Isaac ungeduldig.
Satan wedelte mit dem Schwanz.
Isaacs Schritte näherten sich. „Was ist denn mit dir los, dummer Köter?” fauchte er. „Vorwärts, Satan! Lauf!” befahl er und packte den Hund am Halsband.
Erstaunt sah Tessa zu, dass der treue Satan sich weigerte, seinem Herrn zu gehorchen. Isaac zog am Halsband, doch der Hund stemmte sich gegen ihn.
„Dummes Vieh”, murmelte Isaac, hob den Hund hoch und trug ihn zur Ladefläche des Geländewagens. Nach einem finsteren Blick auf Tessa ging er zur Fahrertür.
Gebannt sah sie zu, wie er die Tür schloss. Der Motor sprang an, doch bevor der Wagen losfuhr, sprang Satan herunter und lief zu ihr zurück.
„Jetzt hast du dir Ärger eingehandelt”, sagte sie zu dem Hund, als Isaac den Motor abstellte und zu ihnen blickte. Trotz des gebrochenen Herzens musste sie über das Verhalten des Hundes lächeln. Satan, der stets seinem Herrn gehorchte! Doch sie machte ein ernstes Gesicht, als Isaac wütend näher kam,
„Was ist mit ihm los?” fragte sie.
„Keine Ahnung. Hast du ihm etwas zu fressen gegeben?”
„Sicher nicht.” Sie zeigte ihm die leeren Hände. Satan reckte sich und leckte ihr die Hand.
Tessa kämpfte gegen ein hysterisches Lachen an. „Ich schwöre dir, Isaac, ich habe ihn nicht gefüttert.”
„Ich glaube, ich muss ihn festbinden.” Isaac ging zum Wagen und kam mit der Leine zurück.
Schweren Herzens sah Tessa zu, wie er die Leine an Satans Halsband befestigte. Welche Mühe er sich gab, um so schnell wie möglich von ihr wegzukommen! Diesmal konnte Satan sich nicht weigern. Dafür hatte Isaac gesorgt.
„Dein Hund besitzt mehr Verstand als du, Isaac!” rief eine Stimme hinter ihnen.
Tessa drehte sich rasch um. Lydia hatte die unterste Stufe vor der Kirche erreicht und humpelte, auf einen Stock gestützt, auf sie zu. „Großmama, ich dachte, du wärst schon längst zu Hause.
„Nein, meine Liebe”, erwiderte Lydia. „Ich habe deiner Mutter bei den Blumen geholfen. Einen Teil haben wir in der Kirche gelassen, die anderen haben wir ins Krankenhaus geschickt.”
„Das ist eine gute Idee”, sagte Tessa und wandte sich an Isaac. Er stand fluchtbereit vor ihr und hielt den Hund fest an
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