Viele Mütter heißen Anita
Doktor Manilva?«
»Ja, Herr Professor.« Der Anwalt blickte auf. »Aber es ist meine Pflicht, darauf hinzuweisen, daß diese Erklärungen Sie bei einem Mißlingen nicht frei von der Schuld der fahrlässigen Tötung sprechen wird.«
Moratalla winkte unwillig ab. »Ich weiß. Warum sagen Sie das, Doktor Manilva?!«
»Weil ich Angst um Sie habe, Herr Professor.«
»Angst haben wir alle.« Moratalla erhob sich von dem Bett. »Sie, und ich auch. Aber sie darf uns nicht hemmen – sie muß uns anspornen, sie zu überwinden.«
Dr. Manilva erhob sich gleichfalls und schob Anita das eng beschriebene Schriftstück hin. »Bitte, unterschreiben Sie, Señora«, sagte er mit einer Stimme, in der Mitleid lag.
Anita nahm den Füllhalter, besah ihn sich, denn sie hatte noch nie so etwas in der Hand gehalten, dann schrieb sie mit ungelenken Fingern und in klobigen, zitternden Buchstaben ihren Namen unter die vielen, engen, schwarz blinkenden Sätze. Sie unterschreibt ihr Todesurteil, durchfuhr es Manilva dabei, und er kam sich elend vor, der Henker zu sein.
Moratallas Schrift war klar, als er schnell seinen Namen darunter setzte. »Bitte, kommen Sie noch in mein Zimmer«, sagte er danach. Und zu Anita: »Ich werde Ihnen jetzt Ihre Kinder hereinschicken.«
Anita nickte ihm dankbar zu. Dann legte sie sich in die Kissen zurück und blickte an die Decke. Sie hatte die Hände gefaltet und lächelte, als Pedro und Elvira leise eintraten und sich an ihr Bett setzten. Pedros Augen waren dick verquollen, ein Schluchzen durchschütterte noch immer seinen Körper. Er legte den Kopf auf das Bett, auf die alten, rauhen Hände der Mutter und küßte sie. Dann schloß er die Augen und blieb so liegen, stumm, ergeben, die Hand der Mutter unter sich.
Als nach einer halben Stunde die Stationsschwester leise die Tür öffnete und hineinblickte, um Bescheid zu sagen, daß die Operation gleiche beginne, schloß sie nach einem Blick schnell die Tür und senkte draußen auf dem Flur den Kopf.
Um das Bett der Mutter knieten Pedro und Elvira.
Und sie alle beteten leise und versunken.
Herr, gib uns die Kraft und den Mut …
Und die Bahre wartete draußen auf dem Flur, bis das Gebet beendet war.
Die schmale, fahrbare, federnde Bahre mit den weißen Laken und den dicken, geräuschlosen Gummirädern.
Die Uhr am Ende des Flures tickte.
Ihre schwarzen Zeiger schoben sich auf die elf.
Elf Uhr, am Samstag, dem 29. Oktober 1952.
Im Saal IV lag Juan bereits unter den gewärmten, sterilen Tüchern.
Prof. Moratalla wusch sich die Hände, neben ihm Dr. Tolax und die anderen Ärzte.
Ihre weißen Mäntel und Kappen leuchteten unter den großen Lampen.
Moratalla winkte. Ein Krankenwärter kam mit der langen, bis auf den Boden gehenden Gummischürze. Moratalla hob die Arme, man band ihm die Schürze um. Eine Schwester kam mit dem sterilen Kasten, in dem die Mundschützer lagen.
»Bei Juan mit der Narkose beginnen«, sagte Moratalla leise, und Dr. Albanez ging hinüber in den Operationssaal …
An diesem Morgen, der so war wie alle Morgen in Solana del Pino, erwachte Pilar Granja mit anhaltendem Gähnen und blickte auf die Uhr auf dem Nachtschränkchen neben sich. Es war die neunte Morgenstunde, und der Spruch, daß sie Gold im Munde habe, traf bei Pilar nicht ganz zu, denn sie war mißgelaunt, hatte schlecht ge schlafen, weil der Gedanke, Ricardo allein in Madrid zu sehen, sie äußerst erregte, und überhaupt war dieser sonnige Tag für sie ein Unglückstag.
An den Samstagen gab es vermehrte Arbeit. Das Haus wurde geputzt, es mußte eingekauft werden, und wenn das alles auch die Mädchen machten, so war doch Pilar wie ein Kapitän auf leckem Schiff überall zu sehen und beaufsichtigte schnaufend und gehemmt durch die Fülle ihres Leibes die kleine Schar der Dienstmädchen und hinderte sie mehr an der Arbeit, indem sie überall herum und im Wege stand, als daß sie sie, wie sie dachte, zu schnellerem Tun anspornte.
Daran dachte Pilar an diesem Morgen, und sie seufzte tief und tröstete sich mit einer Praline, die sie aus dem Schubfach des Nachttisches holte. Dann stand sie auf, schwankte ins Bad und brauste ihren mächtigen Körper ab, was die einzige Hygiene war, die sie sich angedeihen ließ und die sie ausnahmsweise auch als nützlich empfand.
Als sie hinunter in den großen verglasten Wintergarten kam, war der Tisch schon gedeckt. Concha hatte ihr Frühstück beendet und wollte unter einem Vorwand in das Dorf, um von dort heimlich bei den
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