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Viele Mütter heißen Anita

Viele Mütter heißen Anita

Titel: Viele Mütter heißen Anita Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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und sich leiden zu sehen. Zu solchen Patienten war Dr. Osura besonders höflich, denn an ihnen verdiente er mühelos ein schönes Stückchen Geld.
    Es traf sich gut, daß Dr. Osura gerade heute in Mestanza seine Praxis hielt, so brauchte Pedro nur den halben Weg zu machen und half Juan vom Bock des Wagens.
    Juan hatte den Weg über nichts gesagt. Er wußte nicht, was in der Nacht mit ihm geschehen war. Als Pedro und die Mutter es ihm am Morgen erzählten, hatte er nur genickt und in sich hineingesehen. Das ist die Liebe, hatte er gedacht, sie drückt mit das Herz ab. Ich liebe ja zum erstenmal.
    Jetzt saß er bei Dr. Osura in dem großen Wartezimmer, umgeben von anderen Kranken, die ihn nicht beachteten. Der eine hustete, eine Frau hatte den Arm gebrochen und trug ihn in einer Schiene, ein Kind schrie, weil ein juckender Ausschlag es belästigte, und Pedro las die neueste Illustrierte aus Madrid und freute sich, daß die großen, vornehmen Damen auf den Bildern auch nur die dünnen Strümpfe trugen, wie er sie Elvira aus der Stadt mitgebracht hatte.
    Dr. Osura, der beim Hereinlassen eines neuen Kranken Juan und Pedro sitzen sah, nickte ihnen zu und winkte. Nanu, grübelte er, sollte es mit der guten, alten Anita doch schlechter stehen, als ich dachte? Er schüttelte sein weißes Haar und untersuchte einen Bauern, der sich zwei Rippen gequetscht hatte. »Atme mal tief«, sagte er und horchte, ob die Rippen nicht an die Lunge drückten, und der Bauer schnaufte, als gelte es, einen niederbrennenden Ofen anzublasen.
    Endlich traten Juan und Pedro ins Zimmer. Der große Bruder mit wichtiger Miene, sich fühlend als der Vertreter des Vaters, Juan still wie immer, ein bißchen scheu und ergeben in sein Schicksal. Ehrfürchtig sah sich Pedro im Raume um, bestaunte die vielen Bücher mit den goldenen Rücken in dem schweren, geschnitzten, aber wurmstichigen Bücherschrank an der Wand, die blitzenden Instrumente in den Glaskästen und die Liege mit der Gummimatte und dem weißen Tuch darüber, die aussah, als warte sie auf eine gefährliche Operation. Er sah den Eimer für die Binden und Abfälle, sah in einer Ecke eine Schale mit Blut stehen, und der schwere, große Mann fuhr zusammen und wurde blaß.
    Als er zu sprechen begann, senkte er die Stimme, denn er hatte irgendwo einmal gehört, daß man bei einem Arzt leise sein müsse. Dr. Osura neigte den Kopf vor, und ein Lächeln stahl sich in seine Runzeln. Meine lieben, guten Bauern, dachte er. Wie hilflos sie sind, wenn sie in eine ihnen fremde Welt kommen. Und ich war auch nur ein Kuhjunge, bevor ich nach Granada wanderte und mit Melonenverkauf und Zeitungsaustragen in jahrelanger Mühe einen Landarzt aus mir machte.
    Pedro sprach stockend und stützte Juan, als habe er Angst, daß der Bruder umfiel.
    »Und dann schrie er«, sagte er leise. »Er bekam keine Luft mehr, ganz blau wurde sein Gesicht. Er sah schrecklich aus, wir dachten alle, er stirbt. Die Mutter weinte laut, und ich habe mit nassen Tüchern sofort seinen Körper abgerieben. Dann atmete er wieder und schlief, ohne aufzuwachen, bis zum Morgen.«
    Dr. Osura sah Juan groß an. Merkwürdig, dachte er. Und der Junge sieht aus, als habe er nie einen Anfall gehabt. So, wie er jetzt dasteht, kenn ich ihn seit Jahren. Schmächtig, blaß, mit tiefliegenden Augen, in denen das rätselhafte Feuer glimmt, über das ich so oft nachgedacht habe.
    »Wie hast du gemerkt, daß du keine Luft mehr bekamst?« fragte er Juan. »Setzte sie plötzlich aus, oder blieb sie langsam weg? Hast du gemerkt, daß es vom Herzen kam?«
    »Nein.« Juan begann, sich auf einen Wink des Bruders auszukleiden. Er hatte schon das saubere Hemd, das ihm die Mutter aus der Lade gegeben hatte, über den Kopf gezogen und legte beide Hände auf die schmale Brust. »Ich habe gar nichts gemerkt. Plötzlich war ich fort, weit fort – es war Nacht um mich. Mehr weiß ich nicht.«
    »Hm. Das ist nicht viel.« Dr. Osura nahm vom Tisch einen dünnen Gummischlauch und steckte sich die beiden blitzenden, gebogenen Nickelenden in die Ohren. Mit einer runden Scheibe tastete er die Brust und den Rücken Juans ab. Es war eines der üblichen Membranstethoskope, wie sie jeder Arzt besitzt, aber für Pedro war es ein Wunderding, denn er war noch nie bei einem Arzt gewesen. Er lachte, als Dr. Osura nach dem Abhorchen Juan mit dem Perkussionshammer auf die Kniescheibe schlug, um seine Reflexe zu kontrollieren, und staunte mit offenem Mund, als der Arzt mit dem Augenspiegel

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