Viele Mütter heißen Anita
sie zurückschreckte, er setzte sich in den Schatten des Höhleneingangs und blätterte das Buch durch, bestaunte die wundervollen Werke des Griechen Praxiteles, den fülligen Michelangelo, den barocken Schüler, den klassischen Rauch, den mächtigen Rodin und die wilden Fresken des Deutschen Breker. Er las mit heißen Wangen die Beschreibungen und versuchte, die Bildwerke mit den Kohlestiften nachzuzeichnen. Er streifte seine Hose hoch und studierte zeichnerisch die Form seines Beines, und es gelang ihm gut, die kleinen Unebenheiten, die Knochen und Muskeln und Sehnen unter der Haut bildeten, auf dem Papier anzudeuten.
Dann, nach diesen Studien, wandte er sich wieder dem Bild des Mädchens zu. Er legte in die rohe Gesichtsform die Farbe, er rundete das Bild ab, er gab ihm einen Hauch der Jugend und den Glanz, wie ihn sein Herz fühlte.
Ich liebe sie, dachte er. Mein Gott, ich liebe sie. Aber ich kann es ihr nicht sagen. Niemand darf es wissen. Man wird mich auslachen … der Bauer und die reiche Concha.
Er klappte den Zeichenblock zusammen und versteckte das ganze Malzeug in der Höhle.
Ich werde es der Mutter sagen, dachte er, indem er die Höhle mit den Steinen verschloß. Ich muß es der Mutter sagen – sie ist die einzige, die mich versteht.
Sinnend ging er den Berg hinab und trieb die Herde zusammen.
Und er beneidete die Tiere, die fraßen und schliefen und nichts anderes kannten als fressen und schlafen …
In der Nacht geschah etwas, was die Familie Torrico mit Entsetzen erfüllte.
Aus der Kammer Juans gellte ein Schrei, dem ein lautes Wimmern folgte. Anita fuhr von ihrem Lager auf und vergaß, in die schönen Pantoffeln zu fahren. Barfuß tappte sie durch die Küche und riß die Tür auf. Auch Pedro stürzte die Treppe hinunter und rannte in die Kammer, wo Anita schon vor dem Bett Juans kniete und seinen Körper umklammert hielt.
»Was ist?« schrie Pedro und stützte Juan den Rücken. Sein Gesicht war blau angelaufen, die Augen quollen aus den Höhlen. Die Brust, die schwache, schmale Brust, wand sich wie in einem Krampf.
»Er bekommt keine Luft!« wimmerte Anita und klopfte dem wehrlosen Juan auf die Brust. »Er erstickt uns. Pedro … er erstickt …«
Der große Bruder rannte aus dem Zimmer und stürzte zu dem Kessel, in dem das Wasser für den nächsten Morgen war. Er steckte ein Handtuch hinein, rief Elvira, die mit offenen Haaren an der Treppe erschien, zu, sie solle ein zweites Handtuch ins Wasser stecken, und rannte zurück in die Kammer und wickelte Juan das kalte, nasse Handtuch um die Brust, um ihn durch den Schock wieder zum Atmen zu bringen.
Die Mutter kniete neben Juan und weinte. Sie streichelte seine Haare, stammelte leise Kosenamen und küßte die schmalen, langen Hände, als müßte durch sie und ihre Küsse die Kraft zu neuem Leben in seinen Körper dringen.
Pedro legte den Körper seines Bruders zurück. Er massierte seine Brust, drückte den knochigen Brustkorb und riß die Arme wie bei einem Ertrinkenden auf und nieder. Elvira brachte das zweite Handtuch und warf es über Juan. Er schien die Besinnung verloren zu haben und lag wie ein Toter auf seinem zerschlissenen Strohsack.
Über eine Stunde arbeitete der große Bruder. Anita kniete unterdessen vor dem kleinen Hausaltar in der Küche und betete die uralten Bitten, die aus der Tiefe ihres Gedächtnisses plötzlich wieder lebendig wurden und ihr Trost und Hoffnung gaben. Dann hörte sie, wie Pedro leise sprach, und sie rannte in die Kammer zurück.
Juan lag ruhig und schlief. Sein Gesicht war fahl, aber das Blaue, das schrecklich Blaue war aus ihm gewichen. Die Augen, erst weit aufgerissen, starr und voll Entsetzen, waren geschlossen. Die schmale Brust atmete wieder, nur die Lippen waren noch blau und sahen aus, als seien sie zusammengeschrumpft.
»Er lebt!«, stammelte Anita. »Oh, er lebt!« Sie sank am Bett nieder und küßte Juans Gesicht, sie betastete ihn, als habe sie ihn schon verloren gehabt, und die Tränen, die aus ihren alten Augen über die Runzeln rannen, tropften auf Juans Stirn.
»Juan ist sehr krank«, sagte Pedro leise. »Ich weiß nicht, was das ist … aber wenn er keine Luft mehr bekommt, ist es schlimm. Ich werde mit ihm morgen zu Dr. Osura fahren.«
»Ja. Tue das, Pedro, tue das.« Anita deckte Juan zu und holte sich einen Schemel. Sie setzte sich und blickte den kranken Sohn unverwandt an. Dabei deckte sie eine Decke über ihre Beine, denn die Nächte in der Sierra Morena sind kalt und rauh,
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