Viele Mütter heißen Anita
und immer wieder, wie es so oft in einsamen Stunden geschehen war, dachte er an die kleine Zigeunerin Rosita, die vor den Schicksalslinien seiner Hand davonlief, als habe er das Grauen in seinen Händen.
Als der Morgen dämmerte und der Himmel mit kleinen Wolken am Fenster sichtbar wurde, schloß er die Augen und wälzte sich in einem unruhigen Halbschlaf hin und her.
Er träumte verworren … Er stand in der Kunstakademie in einem der großen Säle. Auf einem Sockel stand ein Marmorklotz, und er sah sich in einem weißen Kittel an diesem Marmor stehen und ein Bild herausschlagen. Es war ein Herz, ein riesengroßes steinernes Herz, das er schuf – es wuchs unter seinen Händen aus dem Marmor hervor, und es schwankte plötzlich, rutschte von dem Sockel und fiel auf ihn herab, der schreiend die Arme ausstreckte, das Herz aufzuhalten.
Dieser Schrei weckte ihn. Er sah sich allein. Dr. Osura war schon abgefahren, heimlich, leise, sich und Juan den Abschied ersparend. Auf dem Tisch stand ein Strauß Rosen, den Dr. Osura sich von Maria Sabinar hatte besorgen lassen. Ein Strauß Rosen und ein Kuvert mit fünfhundert Peseten. Sonst nichts – kein Wort, kein Gruß …
Die Sonne schien hell in den Raum.
Da wußte Juan, daß er nun wirklich allein war, einsam und von allen verlassen, und daß er auf seine eigenen Kräfte vertrauen mußte, um nicht in der Fremde unterzugehen.
Da stand er auf und riß das große Fenster auf, beugte sich hinaus in den strahlenden Morgen und atmete mit tiefen Zügen die Luft ein – ein Geruch der Blumen mit dem herben Duft des Wassers unter seinem Fenster.
Die Glasfenster der Akademie blitzten herüber. Ein riesiger geschliffener Spiegel, der ihn anzulocken schien. Auf der Straße rief ein Fischhändler seine Ware aus, Autos fuhren mit lautem Hupen um die Ecken, das Gewirr der Stimmen rauschte bis zu seinem Fenster.
Das Leben. Es geht weiter, und es nimmt nicht Rücksicht auf einen jungen Menschen, der verzweifelt aus einem Fenster lehnt und Heimweh hat.
Und die Glocken von San Juan de los Reyes dröhnten. Die Glocken der Kathedrale und der anderen vierundzwanzig Kirchen fielen ein.
Acht Uhr morgens. In der Akademie wurden die ersten Vorhänge vor die breiten Atelierfenster gezogen.
Und Juan stand noch immer am Fenster und blickte auf das Bild der Stadt, ohne daß sein Herz vor Glück schmerzte.
Erst Maria Sabinar riß ihn aus seinen Gedanken. Sie nahm ihn bei der Hand wie einen kleinen Jungen und führte ihn in das Speisezimmer, wo der Morgenkaffeetisch gedeckt war.
»Erst ein wenig essen«, sagte sie gütig. »Ein Morgen ist nie schön mit leerem Magen …«
Und gehorsam begann Juan zu essen.
Professor Dr. Moratalla stand an diesem Morgen in einem Kellergewölbe seiner Klinik. Dieser Keller lag groß und weiß gekalkt un ter dem Operationssaal II und war eingeteilt in künstlich gekühlte, schmale Boxen, in denen auf fahrbaren Bahren die Leichen der Ver storbenen ruhten und vor der Hitze des Tages geschützt wurden, bis die Einsargung und Beerdigung stattfand. In einem kleineren Raum im Anschluß an diese Boxen stand ein Operationstisch und ein Instrumentenschrank. Der Boden war auch hier gekachelt, aber einige große Marmortische an den Wänden und große, verschließ bare Eimer, die in den Ecken standen, zeigten mit nüchterner Klarheit, daß in diesem Raum unter der Erde die Leichen besonders in teressanter oder freigegebener Fälle seziert wurden.
Prof. Moratalla sah Oberarzt Dr. Tolax an, der soeben aus einer der Boxen trat. Ihm folgte Dr. Albanez. Man sah es seinen Augen an, daß dieser Gang in die Totenkammer eine Überwindung war, die letzte Ruhe der Dahingegangenen zu stören.
»Ich habe alles vorbereitet, Herr Professor«, sagte er. Dabei schluckte er und wünschte sich einen scharfen Kognak, um den merkwürdigen, süßlichen Geschmack, der ihm auf der Zunge lag, loszuwerden. »Der Tote wird gleich in den Sezierraum gefahren.«
Prof. Moratalla wandte sich ab und ging der Tür des kleineren Raumes entgegen, während die beiden anderen Ärzte ihm folgten, etwas langsamer, fröstelnd in der Kühle, die die elektrischen Kühlapparate auch auf den Gang ausströmten.
»Der Mann ist gestern nacht gestorben, sagen Sie?« fragte Prof. Moratalla plötzlich.
»Ja.« Dr. Tolax griff in die Tasche seines weißen Mantels und entnahm ihr einen Zettel. »Jose Fuente, siebenunddreißig Jahre alt, Vater von vier Kindern, Beruf Autoschlosser, bisher zweimal krank, einmal an
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