Vielen Dank für das Leben
ihre Sachen irgendwelche Treppen hinauf- oder hinunterzutragen; ein übergewichtiger Ex-Rausschmeißer, der nach Entfernung seines Raucherbeins arbeitslos war und den Toto stets beim Ausfüllen seiner Behördenpapiere unterstützte; ein alkoholabhängiges Zwillingspaar mit Affinität zu Engeln, das Toto mitunter besuchte, weil es sonst keiner tat. Sie alle blieben für einige Zeit an Totos Stehtisch, erzählten von sich, fragten nie, gingen mit dem guten Gefühl, gehört worden zu sein, weiter ihren wichtigen Verrichtungen nach. Ein Drogendealer, der wegen seines hohen Eigenverbrauchs nicht mehr tätig war, hatte sich einige Leitungen seines Gehirns gekappt und saß neben dem Eingang des gegenüberliegenden Drogeriemarkts. Das waren Totos Bekannte aus dem Viertel, der Himmel war gelbgrau. Der Ex-Drogendealer streichelte eine Katze, und Totos Augen waren voller Tränen, es langte so wenig. Da mussten sie nur in Chören singen, Alten helfen, Kinder beschützen, um Toto weinen zu lassen, weil man doch sah, wie die Welt sein könnte, wenn man den Blick ein wenig von der Straße hob.
Seltsam, dass noch nie einer ihr geholfen hatte. Oder sie gestreichelt, oder ihr zugehört. Toto hatte nicht für Freunde gesorgt, die sie in ihrer Anwesenheit im Leben hätten bestätigen können. Es war ihr auch nie eine Frage gewesen. Wer sie sei und warum sie hier wäre, und wohin ihr Weg führen würde. Das fragte sie sich nicht, sie war sich selbstverständlich, war sich nichts zum Ablehnen oder Infragestellen. Sie hatte sich immer als Teil einer Gemeinschaft von Ratlosen gewusst.
Und es war ihr bis anhin Kontakt genug gewesen, den Alten zu helfen, mit ihnen zu reden, Taschen zu tragen, Kinder zu trösten, mit Dicken zu reden und Betrunkene bequem hinzusetzen. Toto hatte keine Freunde. Die heterosexuellen Männer betrachteten sie nicht als ebenbürtig, somit entfiel das wichtigste Parameter für eine Freundschaft, und die Frauen hatten Angst vor Toto, sie war ihnen zu sehr Mann und unklar. Für die Homosexuellen war Toto ein Nichts.
Toto war immer davon ausgegangen, dass man seine Anteilnahme auf alle verteilen müsse, die einen umgeben, und hatte es verpasst, gemeinsame Erinnerungen mit einzelnen herzustellen, aus denen die Verpflichtung hätte entstehen können, sich zu mögen, und auf die man sich nun hätte berufen können. Nichts war da. Nichts außer der Wohnung mit dem leeren Hochbett, in dem sie nicht mehr schlafen mochte, dem Gang zum Sozialamt, immer mal wieder Geld für neue Schränke beantragen oder sich in der Kleiderkammer neue Hosen aussuchen, erstaunlich allein, dass sie ihr Leben nicht als gescheitert betrachtete, das hätte einen Maßstab vorausgesetzt, und den hatte sie nie gehabt. Eine Bewertung des Lebens fand nicht statt. Weder des eigenen noch des fremden. Sie hätte sich zu einer Gruppe bekennen sollen, andere Gruppen ausschließend. Wegen ihrer sexuellen Vorlieben, Hobbys, Sprache, wegen ihres Bekleidungsstils. Aber das hatte Toto nie gelegen. Sie konnte klare, für die anderen erkennbare Codes nicht lesen, was deren Ablehnung erschwerte, denn ohne die gab es keine Zugehörigkeit.
Über Nacht war Toto alt geworden. Sie erkannte sich klar als nicht mehr der Jugend zugehörig. Da waren keine Linien in ihrem Gesicht und keine grauen Haare, nur zu viele Informationen gab es, die nicht zusammenpassten, die den Betrachter verwirrt und ärgerlich zurückließen. Sie mochten nicht, was sie nicht einordnen konnten. Es könnte sich um eine Bedrohung handeln. Es könnte ein Witz sein, den sie nicht verstanden. Es hätte Toto nichts genutzt zu wissen, dass viele, die sie ablehnten, die ausspien, die ihr übertrieben auswichen, von einem spontan auftretenden Neid getrieben waren, der ihnen nicht bewusst war. Sie verstanden in ihren schwach flackernden Gehirnen für Momente etwas von Totos innerer Sauberkeit, und das macht rasend, in ein Gesicht zu sehen, das nicht böse ist, in Augen, die keine Berechnung verraten.
Nach dem Kaffee ging sie zurück in ihre Wohnung, an einer kleinen Galerie vorbei, die davon zeugte, dass auch dieses Viertel sich in absehbarer Zeit ändern würde. Nach den Galerien kommen die Kleiderläden. Die Bankfilialen. Die Häuser werden nacheinander entmietet, saniert, und alleinstehende Investmentbanker ziehen in die neuentstandenen Zweihundert-Quadratmeter-Wohnungen.
Toto, auf die fünfzig zugehend, war plötzlich die älteste Mieterin im Haus. Als sie eingezogen war, über vierzig war sie
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