Vielen Dank für das Leben
zusammenfloss in einem Wald aus Beton. Ein kleines nervöses Surren war der Grundton auf den Straßen, wo der Verkehr kollabierte, die Menschen nicht mehr wussten, wem sie trauen konnten, ihrem Banksachbearbeiter nicht mehr, den Krankenhäusern seit der Privatisierung nicht mehr, dem Nahverkehr nicht mehr, und seit immer mehr Gebäude im Rohbau zusammenbrachen, auch den Bauunternehmen nicht mehr. Von der Großen Leidenschaft des Reisens waren sie geheilt, die Menschen, das Reisen, der Tourismus war ein Hobby der Unterschicht geworden, der elitäre Mensch blieb zu Hause und spielte die alten Werte nach. Beunruhigendes offenbarte sich bei der bislang völlig vernachlässigten Erforschung von Pilzmyzelen. Die Biester waren so intelligent, dass sie Lebewesen manipulieren konnten. Man munkelte von außerirdischen Lebensformen, die die Welt unterhöhlten. Doch das war bei der nächsten Krise schon wieder vergessen, das kleine Unwohlsein mit den Pilzmyzelen. Wie immer in Krisenzeiten, und die Jahre 2010 bis 2030 waren eine fortdauernde Krisenzeit, machten sich Männer gegen arbeitende Frauen stark, Bedrohung des Arbeitsplatzes, was sonst. Gleichberechtigung im Westen Europas existierte nicht, jede dritte Frau wurde vergewaltigt, da kam auch schon wieder eine neue Supergrippe. Doch eine gute Zeit brach an. Das Gerücht, dass nur Kakerlaken atomare Katastrophen überleben können, galt es zu revidieren. Degeneriert mögen sie sein, von Tumoren zersetzt, doch die sterben nicht aus, die gewöhnen sich an alles. Die Menschen.
2010–2030.
Und weiter.
Frau Meier lag auf dem Bett am Fenster, sie hatte sich den Platz mit dem Nachdruck einer Person, die nichts mehr zu verlieren hat, zu eigen gemacht. War auf das Bett gestiegen, mit den wenigen Schritten, die sie ohne Rollstuhl machen konnte, und hatte es nicht mehr verlassen. Toto schlief am Boden, in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes, hinter einem Paravent, und in der Nacht hörten sich die beiden atmen, manchmal weinte Frau Meier leise, dann ging Toto zu ihr, nahm sie in den Arm. Es ließ nach, das Weinen, aber hörte nicht völlig auf. Wenn es ein bisschen aufhörte, erzählte Frau Meier. Von ihrer Mutter, die mit ihrem Bruder in Urlaub gefahren war und sie allein zu Hause gelassen hatte. Frau Meier erinnerte sich an Kirschblüten, die zu Boden fielen, und an unklare Verzweiflung. Und an die erste Liebe erinnerte sie sich. Ein Junge, den sie immer vom Fenster aus sah. Zart und blond. So glücklich wie beim Beobachten des Jungen mit vierzehn war sie mit einem Mann nie mehr gewesen. Frau Meier erinnerte sich immer an dieselben Geschichten; waren sie erzählt, begann sie von vorn. Sie wusste nicht genau, wo sie war und warum und in welcher Zeit. Ab und zu bekam ihre Unklarheit einen Riss, durch den sah sie das Zimmer und Toto, und dann war sie glücklich. Wie es schien. Und dann verstand sie, dass es nur ein geborgtes, sehr kleines Glück war, dem nichts mehr folgen würde, dass es ihr nicht mehr möglich war, ihr Leben schön zu möblieren, denn es waren die letzten Meter vor dem Ziel. Dann weinte sie wieder. Frau Meier erinnerte sich vornehmlich an die unangenehmen Momente. Sie hatte irgendwo, vergessen, gearbeitet und einen Mann, vergessen, ernährt. Wollte sie ihr Geld abheben, bedurfte es seiner Unterschrift. Das vergisst man doch gerne, dass Frauen erst seit kurzem die Bürgerrechte besitzen. Später wurde sie von ihrem Mann oft vergewaltigt, ohne dass es so genannt wurde. War halt ein starker, ein leidenschaftlicher Mann.
Die nähere Vergangenheit war kein Ort, durch den Frau Meier gerne in Gedanken spazierte, und so verlor sie sich wieder irgendwo in einem diffusen Licht, und der Raum schwebte ihr wie eine Wolke über alle Hässlichkeit am Boden. Toto saß in ihrer Ecke. Sie las. Und hätte sich wieder einmal nach der Zukunft fragen können, doch das tat sie nicht. Die Situation ist nur in Filmen absurd oder erheiternd, Filme, in denen Alte in Rollstühlen bei ratlosen jungen Menschen auftauchen, und dann kommen beide Parteien zur Ruhe, und eine Karriere wird gemacht. Aus Toto würde nun, zweitausendelf, vermutlich, oder später, nichts mehr, womit sie sich bei einer Dinnerparty brüsten konnte. In den letzten Wochen war Toto schwach gewesen, und in dem Zustand war sie empfänglich für kleine Sentimentalitäten. Toto bedauerte nichts in ihrem Leben, außer der Liebe, die sie nie kennengelernt hatte.
Manchmal, in den Nächten, wenn ihr so warm war und das Laken
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