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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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damals, fühlte sie sich irgendwie, aber nicht alt und auch nicht mehr jung, und die meisten Mieter waren älter gewesen als sie. Sehr alt, sehr grau, sehr dick oder sehr dünn, und beige. Alle trugen beige und dieselben Frisuren, wenn sie Frauen waren, kurz, und die Männer hatten einen Kranz um eine Platte, sie waren misstrauisch. Nacheinander waren sie verschwunden, in Heime oder in die Erde, und heute wohnten hier vornehmlich junge Familien aus Pakistan, Bangladesh, Tunesien, und viele Kinder, und wieder gehörte Toto nicht dazu, so oft sie auch die Kinder zu trösten versuchte, den Frauen die Körbe trug, die Männer freundlich grüßte. Toto merkte, dass sie jetzt viele Sätze begann mit: Da, wo früher… Und plötzlich wurden die Politiker, die doch immer alte Männer waren, jüngere Frauen, und es gab trotzdem keine Bäume mehr oder Wiesen, der Boden war zu wertvoll geworden. Die Landwirtschaft war komplett in Hallen und Produktionsstätten verlegt, Tiere wuchsen in Massenzuchtanlagen, nur in unwegsamen Bergregionen gab es kleine Biofarmen. Die wohlhabenden Bürger reisten am Wochenende mit Weidenkörbchen in die Berge, sprachen mit den Hühnern und kauften anschließend ihre Eier, die von den Hühnern persönlich in zartes Papier gewickelt wurden.
    Die Ausflüge in die Berge waren das Naturbetrachtungsereignis der doppelverdienenden Angestellten. Zu Tausenden schlichen sie am Wochenende die Berge hoch, tranken aromatisierten Fencheltee in gemütlichen Restaurants und entfernten sich wieder in den Stau, um am nächsten Morgen munter zu sein für ihre verdammten Aufgaben.
    Totos Quartier war voll geworden. Die Kinder rumänischer, ungarischer, afghanischer, sudanesischer Einwanderer spielten auf der Straße, immer brüllte ein vom Lärmpegel gestörter Mensch aus dem Fenster, Wäsche hing an den Häusern, es roch nach Essen, die, die ursprünglich aus der kapitalistischen Stadt im Norden stammten, hatten sich auch daran gewöhnt, in der Unterzahl zu sein, wer konnte, war aus dem Viertel verzogen, irgendwohin, in einen Neubaukasten in den trockengelegten Sümpfen vor der Stadt, was inzwischen in der Stadt war.
    Da, wo damals die Sümpfe waren…
    Da, wo damals die Weißen waren… Das Aussterben der weißen Rasse war weniger tragisch, als man angenommen hatte. Sie verschwand so langsam vom Planeten, dass es am Ende kaum mehr auffiel.
    Die Welt war nicht untergegangen.
    Toto hatte keine Freunde.

Jeden Abend
    parkte Kasimir seinen Oldtimer um die Ecke des Blocks, in dem Toto wohnte.
    Er schlenderte am Haus vorbei, und immer hoffte er, Toto am Fenster sitzen zu sehen. Er fragte sich nicht nach seiner Besessenheit für das Leben dieses Wesens, das immer mehr an Fasson zu verlieren schien. Es genügte Kasimir zu sehen, dass Toto da war, dass sie weiter ohne Arbeit war und nicht besonders gesund.
    Kasimir war nie an Freundschaft interessiert gewesen. Die setzte doch ein Sicherkennen voraus, und in wem sollte er sich spiegeln, wer sollte ihn interessieren. Kasimir war ein schöner Mensch, war das Paradebeispiel, um die schwachsinnige Aussage, Schönheit kommt von innen, zu widerlegen. Innen ist doch nichts außer Gedärmen und Neid, im besten Fall Gleichgültigkeit. Kasimirs halblanges Haar war noch natürlich dunkelblond, der Körper zart und stets elegant bekleidet. Kasimir hatte eine Vorliebe für weiche Halstücher entwickelt, für Kaschmirsakkos und Cordhosen. Er trug ausschließlich Stiefel, er verfügte über ein erstklassiges Stiefelbein. Manchmal saß er abends in seiner Villa, immer allein, denn seine Hormone verlangten nicht mehr nach abenteuerlichen Begegnungen, ab und zu bezahlte er für einen matten, kleinen Ausbruch von Alterssadismus.
    Kasimir war, von seiner Obsession für Toto abgesehen, ein seltsam zweidimensionaler Mensch geblieben, der sich langweilte, wenn es keiner Besessenheit zu folgen galt. Was ihn auszeichnete, war, dass er darum wusste. Er gefiel sich in Rollen und Bildern. Die Rolle des gierigen Kapitalisten. Die wollte heute doch keiner mehr ausfüllen, in der Zeit, in der alle irgendwie gleich aussahen, das Gleiche dachten und das Gleiche taten. In seiner Generation. Die er verachtete. Wie viele in seinem Alter, die nun, im Jahr 2014 oder 2015 oder 20 – egal, um die fünfzig waren, verehrte er die, freundlich gerechnet, Jugendlichen, die Anfangzwanzigjährigen, die Unbelasteten, die sich in sozialen Netzwerken über Politik aufregten, die sauber und so mit dem System verschmolzen

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