Vielen Dank für das Leben
Erklärung des Wozu blieben die Ratgeber schuldig. Totos Verfassung war keinen Regeln unterworfen. Oft fühlte sie sich normal; fühlte sie sich nicht normal, dann machte sie nur die Ratlosigkeit auf der Straße traurig, die Trinker, die schon am Morgen neben den Ladeneingängen lagen und den Mond anbellten, die jungen Männer, die bereits in der Früh schlechte Laune hatten und nach einem Opfer suchten, die Hausfrauen unter Tabletteneinfluss, die zu den Läden unterwegs waren, wo man abgelaufene Lebensmittel an Arme verteilte. Was nützt der schönste Kapitalismus, wenn die Freiheit, die versprochene, nur in einer freien Wahl der Produkte besteht, die man kaufen kann?
Horden gelangweilter arbeitsloser Arbeiter saßen in Sozialwohnungen. Es spülte immer mehr Menschen aus dem System, man brauchte kaum mehr Ungelernte, da ist doch kein Bedarf mehr an neuen Kleinwagen, wie soll man die betanken, keiner braucht mehr Nähmaschinen und Makrelen in Tomatensoße, Landkarten und Thermoskannen. Die Renten knapp, Millionen unterbezahlter Frauen aus Pflegeberufen mittellos und alt in Massenunterkünften.
Toto fiel auseinander, schien sich aufzulösen, stieg die Treppen hoch, und Frau Meier lächelte. Sie spielte ein wenig mit ihrem Weißbrot in Milch, sie sah die Autos an, sie, die noch die Straßen leer und grün gekannt hatte. Der Preis für gute Zahnhygiene besteht in betonierter Urbanität. In Megacitys und aussterbenden Tiersorten. Nein, Toto fiel auch keine Lösung ein. Alle wollten es nett haben in Neubauwohnungen, da gab es, selbstredend, keinen, der freiwillig erklärt hätte, danke schön, wir bleiben gern in unseren Lehmhütten auf Borneo und beackern die Felder mit der Hand, damit ihr schöne Urlaubsfotos davon anfertigen könnt, ehe ihr wieder nach Hause fliegt und die Zentralheizung anstellt und shoppen geht.
Toto musste sich übergeben. Öfter in letzter Zeit. Sie sah müde aus, die Haare, immer noch wie eine dichte Kappe, fielen ins Gesicht. Immer noch zu rund, auf einem Leib, der groß war und weich. Toto sah gesund aus. Ein runder großer Inuit-Teddybär. Doch wenn man den Blick scharfstellte, merkte man, dass sich etwas aufzulösen schien. Toto schien zu verschwinden, ohne dass man sagen kann, was genau den Eindruck hervorrief. Sie sah aus, als sei sie von wenigen Dioptrien mangelnder Sehschärfe umgeben.
Das Bad war ordentlich, die Handtücher zu oft gewaschen, die Bemühung, es sich nett zu machen, zu deutlich. Kein Fenster hier, kein Fenster in der Küche. Toto machte sich Kaffee. Sie müsste sich vermutlich etwas überlegen. Einen Beruf suchen. Einen neuen Anlauf nehmen. Vielleicht noch mal über das Singen nachdenken. Sie könnte einen Volkshochschulkurs besuchen. Sie kam mit dem Kaffee ins Zimmer zurück. Das in einem freundlichen Licht lag. Frau Meier hatte sich um ihren Futternapf gerollt. Sie lächelte. Sie starb. Als sich Toto zu ihr beugte, schlug sie mit einer kleinen schlaffen Hand nach ihr, geh weg, geh weg, du ekliger Freak. Waren ihre letzten Worte.
Toto erschrak nicht einmal mehr. Sie setzte sich auf den Rand des Bettes, da lag die tote Frau mit einem bitteren Zug um den Mund.
Und weiter.
Die alten Bewohner in Totos Viertel bewegten sich so verstörend langsam, als wären sie alle Mitglieder einer verzagten Tai-Chi-Gruppe, ihre Körper erzeugten durch die Langsamkeit Endorphine, die sie gütig von ihrer Umwelt trennten, trotzig geworden, schlurften sie an gegen die Beschleunigung der Welt.
Die Verlierer der kapitalistischen Stadt hofften nicht mehr. Eigentlich eine vernünftige Haltung, sie führte jedoch bei den meisten zur vollkommenen Verwahrlosung.
Wann immer Toto das Haus verließ, den Kopf wirr von all den hereinbrechenden Informationen, fühlte sie sich wie unter Kosmonauten im All. Keine Verbindung mit der Basisstation. Jeden Morgen ging Toto an dem leeren Spielplatz vorbei. Er war geschlossen worden, nachdem die Bewohner der umliegenden Häuser immer öfter die Kindergärtner verprügelt und die Kinder angeschrien hatten. Es war ihnen zu laut gewesen, den Anwohnern, da konnten sie sich nicht recht anbrüllen, bei dem Kinderlärm. Um den Fußballplatz war eine meterhohe Schallschutzmauer gezogen worden, schön sah das nicht aus. Toto stand mit einem Kaffee vor einer Bäckerei, die industriell gefertigte Weißmehlwaren verkaufte, und machte sich mit dem Tag vertraut. Bekannte kamen vorbei. Eine alte Dame, die ihre Wohnung immer mit sich führte und der Toto fast täglich half,
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