Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
Vom Netzwerk:
sich schnell eine Heimat suchen, ohne zu wissen, was das sein konnte. Eine Familie, ja, eine Familie, das ging so: Ein Kind, dann wird ein Nest gebaut, schön renoviert, und Gardinen werden aufgehängt und Blumen in die Vasen gestellt, und das Kind schreit, und kein Gefühl tritt ein.
    Darum gab es im Heim kaum Kontakt zwischen Großen und Kleinen. Ihre Welten berührten sich nicht. Die Mittleren, die kannte man, die waren aus den eigenen Reihen, da wurde gehasst und geprügelt von oben nach unten, erpresst und gestohlen.
    Wenn ein Kind den Schlafsaal der Kleinen verließ, gab es tränenreiche Abschiede, lange Gespräche unter den Bettdecken, doch bereits am ersten Tag bei den Größeren waren die Babys vergessen, wie die Jüngsten im Heim genannt wurden. Es galt, sich in neue Gruppen zu finden, Freunde zu suchen und Abneigungen zu manifestieren. Bei den Großen fand die Trennung der Geschlechter statt. Eine verwirrende Angelegenheit, denn auf einmal wurde verhüllt, versteckt, verschwiegen, plötzlich wurden die Mädchen anders behandelt als die Jungen, mussten leiser sein, sauberer, pünktlicher, an ihre Gehirne wurden höhere Maßstäbe angelegt, dafür hatten die Jungen mehr Freiheit. Sie wussten es ja nicht besser, konnten es nicht besser und waren darum von vielen Arbeiten im Heim befreit. Jungs konnten Fußball spielen, während die Mädchen die Heimzeitung gestalteten, kochten, die Wochenpläne machten, eine Vorbereitung auf ihr späteres Leben im sozialistischen Land, wo Gleichberechtigung bedeutete, dass Frauen mehr arbeiteten, weniger Freizeit hatten und ihre Männer nutzlos in Kneipen saßen.
    Wirst du nicht die schlechte Hand benutzen, kam die durchdringende Stimme Frau Hagens vom Nebentisch. Ein Linkshänder ließ erschrocken seine Gabel fallen. Die böse Hand war ihm wieder in die Quere gekommen. Die Teufelshand, die Kapitalistenhand. Das Kind versteckte sie ängstlich unter dem Tisch, nur kein Aufsehen erregen, nur nicht Thema der abendlichen Ansprache werden, die in einigen Minuten begann.
    Nach der Ansprache war es zu spät, irgendetwas zu Kasimir zu sagen. Danach wurde abgeräumt, abgewaschen, dann ging es ins Bett, gleich würde es zu spät sein, Nähe mit Worten herzustellen, und wenn ihm doch nur etwas einfiele, und wenn er nur nicht so schlecht röche.
    Totos Herz schlug sehr viel schneller als gewöhnlich, vielleicht könnte er endlich einen Freund finden, wenngleich er nicht wusste, was das hieß, außer miteinander zu flüstern und zu kichern, und ihm fielen doch keine Worte ein, keine interessanten Beobachtungen, nichts, was er mit Kasimir hätte teilen wollen. Er sah sich im Speisesaal um. Für jemanden, der Spaß dran hatte, schlecht über andere zu reden, gab es hier viele Geschichten, aber Toto wusste nichts davon, denn er war sicher, alle anderen waren wie er. Ohne boshafte Gedanken und Absichten.
    Komische Uhr, sagte er, nachdem er lange nach etwas Erwähnenswertem gesucht und dabei das große Zifferblatt ohne Zeiger über dem Eingang gefunden hatte. Du musst nicht reden, sagte Kasimir nach einer zu langen Weile. Und nach weiteren Minuten: Ich bin nicht so gut mit Gesprächen, aber vielleicht können wir ja einfach so Freunde sein.
    Toto fiel es plötzlich schwer, ohne Anstrengung zu atmen. Dieser eine Moment, in dem ein Wunder passiert, dieser Moment, den man im Leben viel zu selten erlebt, dann, wenn der geliebte Mensch wirklich vor der Tür steht, man die Traumwohnung bekommt oder der Hund doch nicht stirbt, ausgesprochen zu hören, wonach sich einer am meisten sehnt, war ein Wunder, das wusste Toto natürlich noch nicht, dass es viel zu wenige Wunder geben sollte, im Leben, in seinem speziell, doch ehe er sich weiter auf Kasimirs Worten und seinem Wohlgefühl ausruhen konnte, erklang die Glocke, deren Ton unbedingt mit Frau Hagen verbunden war, die am Ende der Tafeln stand, unter der Uhr, die Totos kurzes Glück eingeleitet hatte, mit ihrem Glöckchen in der Hand, mit ihrem Hört-her-jetzt-wird-es-wichtig-Ton stand sie da, die Frau Hagen, pünktlich sieben Uhr, und begann wie jeden Abend mit ihrem Tagesrapport. Heute, hob sie an, und ihre Stimme kam tief aus dem Keller ihrer Abscheu, war ein speziell unangenehmer Tag in unserem Heim, denn Christian, würdest du bitte aufstehen, ein Junge vom Tisch der Großen, vielleicht fünfzehnjährig, erhob sich, er hatte einen roten Kopf und sah aus, als wolle er umfallen, Frau Hagen sah ihn nicht an, sie fuhr fort, Christian hat sexuelle

Weitere Kostenlose Bücher