Vielen Dank für das Leben
äußerst uninteressante Dinge herstellte. Kasimir sah von weit oben auf diese Familie.
Alles quadratisch.
Die Siedlung hätte überall in der westlichen Welt stehen können; in dieser beängstigenden Abspritzbarkeit war sie jedoch fast ausschließlich in diesem kapitalistischen Land im Norden anzutreffen, wo ein kollektiver Putzzwang der Bevölkerung half, sich rein zu fühlen. In Kasimirs näherem Umfeld hatte sich ein unmenschlicher siedlungsinterner Druck aufgebaut, und kaum eine der Frauen hätte es ausgehalten, dieses Getuschel angesichts von offensichtlich gegilbten Gardinen, ungereinigten Türvorlegern, nichtpolierten Mülltonnen und quietschenden Garagentüren. Das war das Grauen der siebziger Jahre.
Das sind meine neuen Eltern. In ihnen manifestiert sich die umfassende Blödheit der menschlichen Rasse. Kasimir sah seine Mutter kauen, jeden Bissen 34-mal, und er stellte sich den Brei vor, vermengt mit Speichel, den sie mit schneller Echsenzunge in den Gehörgang des Vaters pressen würde. Äußerlich waren alle am Tisch ohne Eigenschaften. Kasimir hoffte, dass bei ihm noch irgendetwas wachsen wollte und ihn auch äußerlich vor anderen auszeichnen würde. Wozu gibt es so viele uninteressante Menschen? Warum füllen sie mit ihren Körpern Straßenbahnen, belegen Wohnraum, warum essen sie, verdauen, warum gibt es sie, die doch zur Evolution nichts beitragen, Missing Links auf dem Weg zu einem neuen Metawesen, haben sich vom Neandertaler kaum nennenswert weiterentwickelt. Diese kurzen dunkelblonden Haare seiner Mutter, mit Dauerwelle in eine Helmform gebracht. Kasimir hätte sie gerne brennen sehen. Nach dem Essen wuschen sich alle die Hände. Vier Minuten. Die Männer machten den Abwasch, meist wurde im Anschluss von der Mutter nochmals nachgespült. Danach saß die Familie vor dem Fernseher, um Wissen und Bildung zu erlangen. Kasimir machte Hausaufgaben. Sagte er. Und ging in den Keller, um zu schreien. Nachdem er heiser war und müde, begann er Bücher über Mathematik zu lesen. Vor dem Fernseher diskutierten die Eltern über Politik. Sie erwarteten von denen da oben mehr. Sie konnten nicht formulieren, wie dieses Mehr genau auszusehen hätte, aber sie hatten zu wenig. Immer. Kasimirs Mutter trug fleischfarbene Strumpfhosen. Sie hatte ihre Hausschuhe ausgezogen und schabte ihre Füße aneinander. Der Vater hatte den obersten Knopf seiner Hose geöffnet, die nach oben gerutscht war, und seine Genitalien sahen aus wie Kloßmasse, die in einem Leintuch gepresst wird. Das Ehepaar sah fern bis zum Sendeschluss. Sie wurden über die Aktivitäten der Kommunisten informiert, nickten leise mit dem Kopf, sie sahen eine Volksmusiksendung und wippten mit den Beinen. Dieses Wiedererkennen, diese Heimataufnahmen. Der Wald. Der Hund. Der Greif! Die Eltern fühlten sich auf der richtigen Seite des Lebens. Sie wuschen sich, abends immer mit dem Lappen, gebadet wurde am Freitag, sie zogen Pyjama und Nachthemd an und legten sich auf die getrennten Ehebetten. Gelesen wurde nicht mehr. Gelesen wurde am Morgen die Zeitung mit den regionalen Nachrichten, Festmahl der Todesanzeigen.
Im Kinderzimmer saß Kasimir und starrte aus dem Fenster, dreißig Jahre nach dem Krieg, keiner, den Kasimir kannte, war daran beteiligt gewesen, die Zeit der großen Geständnisse noch weit entfernt, alle waren verhinderte Partisanen und Widerstandskämpfer, gegen Juden hatte niemand etwas. Es gab auch keine mehr. Die Vereinbarung der Kriegsverlierer war, Ruhe bewahren. Alles ordentlich halten, ruhig sein, fleißig sein. Das Land wirkte so unauffällig, seine Bewohner so uniform, als hätten sich alle verabredet, in einer Luftaufnahme einfach wie ein großes Gartenfeld zu wirken.
Wäre nur das schlechte Gewissen nicht gewesen. Wie ein Tinnitus. Immer da, machte so aggressiv. Nach dem Krieg. Geburt des Mittelmaßes.
Der Neid, der der Bevölkerung des kapitalistischen Landes im Norden nachgesagt wurde, den gab es nicht. Es war da nur die große Angst, einer möchte aus dem zweidimensionalen Luftbild ragen und den Feind anlocken.
Scheißland. Kasimir saß in seinem Zimmer, er dachte an Toto. Immer wenn er sich langweilte, dachte er an ihn und das Geheimnis, das ihn umgeben hatte. Kasimir wusste, was schwul war. Er war schwul. Davon ging er aus, weil er, wenn er sich anfasste, an Jungen dachte. Aber Toto, der hatte etwas Besonderes an sich gehabt, das die Menschen, also ihn, reizte, es zu zerstören. Dieser unglaublich einfältige Trottel, der nicht
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