Vielen Dank für das Leben
an das Böse geglaubt hatte, sich nicht zu wehren wusste, den man hatte schlagen wollen, bis er nicht mehr lächelte, der Wahnsinnige, der Kasimir so wütend machte. Vielleicht würde er ihn noch einmal treffen. Später. Ja, sicher wird er das.
Und weiter.
Du wirst es gut bei deiner Pflegefamilie haben. Sagte Frau Hagen. Sie packte einige knitterfreie Polyesterhosen und -hemden in einen Beutel, dazu eine Zahnbürste, ihre Bewegungen waren hektisch, der Kopf gesenkt, was könnte sie nur noch in diesen verdammten Beutel stecken, flackernd musterten ihre Augen die Deckenlampe.
Toto saß auf seinem Bett und hatte Angst. Er würde seine Heimat verlassen, die ihm kaum Heimat gewesen war, sondern mehr ein trockner Ort mit Bett, er würde weggeschickt werden, schon wieder, obwohl er sich an das erste Mal nicht mehr erinnern konnte, aber er wusste doch, dass es geschehen sein musste, denn aus Versehen landet keiner im Kinderheim. Toto war unterdessen fast einen Meter achtzig groß und wog achtzig Kilo, und das war doch alles zu viel. Für die Menschen in der Kleinstadt und für die Kinder des Heims. Nun, da der Umzug in die Gruppe der Großen bevorstand, wo Sexualität und so weiter das beherrschende Thema war, musste Frau Hagen ihn loswerden. Ich muss ihn loswerden, um die Statistik sauber zu halten, ich muss ihn loswerden, es wird Ärger geben, hatte sie einige Wochen lang ständig vor sich hingemurmelt, und dann war ihr ein Bekannter auf dem Land eingefallen, der dringend Hilfe auf dem Hof brauchte, bedachte sie es recht, ließe sich vielleicht sogar ein kleines Geschäft machen, und nun war das Geschäft gemacht, der Junge musste gehen.
Frau Hagen war zur Heimleiterin und zur Parteivorsitzenden der Kreisleitung geworden. Sie wusste nicht, was das bedeutete; die Kreisleitung, die Ortsgruppe, der Bezirksrat und vor allem die Parteiarbeit schienen ihr doch ein unverständliches Theater, bei dem die Genossen zweimal pro Woche im Rathaus zusammensaßen, Wodka und Limonade tranken, gefälschte Bilanzen vorlasen und im Anschluss Sex miteinander hatten. Nicht alle zusammen, Paare bildeten sich, der Alkoholzuspruch im Land führte unweigerlich zu dem, was man sexuelle Freiheit nennt, in Wahrheit aber besoffenes Vögeln war. Wie die meisten Menschen wollte Frau Hagen einfach mehr. Egal, was: Aber alles hatte eine positive Bilanz zur Bedingung.
Vielleicht hatten einige der sozialistischen Kader ihr politisches Amt sogar mit der Überzeugung angetreten, für eine Welt ohne Klassenschranken zu kämpfen, aber das vergaßen alle auf dem Weg dahin, wo sie den Gipfel vermuteten. Da kamen seltsame Wünsche auf in den Menschen, nach Unsterblichkeit, nach Haus, Auto und Garten. Leider waren der menschlichen Bestrebung nach umfassendem, befriedigendem Besitz im Sozialismus Grenzen gesetzt. Eine Villa am See, ein Fahrer, Kubareisen, das lag für die Genossen Politiker noch im Bereich des Möglichen, doch spätestens mit dem täglichen Kaviar von der Krim war alles erreicht, was man in einem normalen privilegierten Ostleben besitzen, essen und ficken konnte. Deshalb verfiel an dieser Stelle die Führungsriege des Landes in Apathie.
Doch so weit war Frau Hagen noch nicht. Sie musste noch lügen, sie musste noch Bilanzen fälschen, sie musste noch eine Bluse der Parteijugend tragen und mit dem Parteivorsitzenden geschlechtlich werden, damit sie irgendwann in einem großen Büro sitzen durfte und außer der Bespitzelung der Kollegen keiner Tätigkeit mehr nachzugehen hatte.
Frau Hagen träumte von einem Haus am See, wusste allerdings nicht recht, was sie darin hätte unternehmen sollen. Ihr war nie recht wohl mit sich, es war ihr wie in Anwesenheit eines ungebetenen Gastes mit hässlichen Hosen.
Frau Hagen schaute sich nervös um, sie wollte den Zeitpunkt, da sie von einer gefühllosen Erzieherin zu einer kriminellen Kinderverkäuferin wurde, so lange wie möglich hinausschieben, und auch Toto drängte nicht auf überstürzte Abreise. Er war klug genug, zu ahnen, dass sich seine Lage auch bei einer Pflegefamilie nicht grundlegend verbessern würde. Toto hatte umfassender als Kinder, die in der geschützten Werkstätte Familie aufwuchsen, gelernt, Menschen zu beobachten und zu verstehen. Sicher, die Bücher, von denen er bis zu sechs Stück in der Woche las, hatten geholfen und ihn zu jemandem gemacht, der den anderen Angst einflößte. Sie fühlten sich unterlegen, durchschaut, sie verstummten in seiner Anwesenheit, denn sonst hörten sie
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