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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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sich seltsame Sätze sagen, als sprächen sie auf ein Tonband, mit unbekannter Stimme. Toto wollte das alles nicht. Er sehnte sich nach einer umfassenden Verschmelzung seiner Person mit der Masse der Menschen, doch er wusste, im Moment wirkte er merkwürdig auf andere. Das würde sich auswachsen, dessen war er sicher, es galt nur abzuwarten und die Zeit unbeschadet zu überstehen, bis er eins mit seiner äußeren Form geworden war. Abwarten. Warum eine Pflegefamilie ausgerechnet ihn gewählt haben sollte, wenn es im Heim doch wirklich niedliche kleine Kinder zur freien Verfügung gab, war unklar. Aber eine Luftveränderung müsste helfen, die Zeit schneller verstreichen zu lassen.
    Die Schule würde er nicht vermissen, obwohl die Angriffe auf ihn unterdessen eingestellt worden waren. Jeden Tag nach Ende des Unterrichts hatten mindestens sechs Jungen auf Toto gewartet, ihn zu Boden geworfen und getreten. Toto lag da, stumm, wartete auf das Ende der Behandlung, er stand auf, wenn die anderen abließen, klopfte sich den Staub aus der Kleidung und ging ins Heim. Das macht doch keine Freude, jemanden zu quälen, ohne dass er eine Reaktion zeigte. Toto hatte sich die Fähigkeit angeeignet, seinen Verstand von seinem Körper zu trennen; er schaffte das, weil ihn langweilte, was da geschah, an seinem Leib, und weil er sich intensiv mit dem Studium seiner Peiniger beschäftigen konnte. Welch irre Wut in den Gesichtern der Jungs, die nicht ihm galt, er lag da nur zufällig und löste Befremden aus, die Wut kam von einem unklaren Ort. Es war schwer für heranwachsende Männer, eingesperrt zu sein. Auch wenn sie es nicht anders kannten, auch wenn sie im Zoo geboren worden waren, sie wollten doch die Welt erobern und wussten, dass sie nur in einem Käfig leben durften, gefüttert und gewaschen, die Belohnung am Ende eine Medaille, darum machte es sie so wütend, dass ihr Wachstum Grenzen hatte. Wollten doch unendlich sein, die jungen Männer, und mussten nun prügeln und trinken, und wenn sie wenigstens bei den Mädchen ankämen. Doch die träumten alle von einem Prinzen aus dem Westen, der ihnen die Welt kaufte.
    Toto hatte die Prügel überlebt, den Erdkundelehrer, der mehrfach Zeuge der Behandlung gewesen war, er wusste, man gewöhnt sich an alles, er fragte sich nur mitunter, ob die Freude, die ihm die Bücher schenkten, den Ärger in der lektürefreien Zeit rechtfertigte. Nach Zola hatte er Dostojewski gelesen, Balzac, Hemingway. Es folgten Poe und Schopenhauer, Toto brachte die Weltsicht der toten Männer nicht mit dem in Einklang, was er um sich sah, da suchte doch jeder, der wuchs, nach einer Orientierung, es war die Zeit, in der die anderen Jungs in seiner Gruppe langsam geschlechtsreif wurden. Pickel bekamen sie und eine furchtbare Unruhe, mit der sie nichts anzufangen wussten. Die Jungs begannen anders zu riechen, nur Toto roch weiterhin nach Milch und Sauberkeit.
    Toto mochte die Rasse, der er angehörte, glaubte nicht an ihre Bosheit, aber der Wunsch nach einer außerordentlichen Verbrüderung mit einem ganz besonderen Menschen hatte sich nach Kasimirs Verrat nie wieder eingestellt.
    Er vermutete, dass die Menschen so ratlos waren, weil sie um ihren Tod wussten, der bald eintreten würde, und dass es keinem gelang, diesen Umstand völlig zu verdrängen. Toto rechnete täglich mit seinem Ende und war immer wieder überrascht, sich morgens beweglich vorzufinden. Er würde später, wenn er das Heim, die Schule und das Land lebendig überstanden hätte, etwas tun, das den Menschen zu einer besseren Stimmung verhalf. Im Moment jedoch sah es so aus, als würde das Später noch ein wenig auf sich warten lassen.
    Frau Hagen tat, als packe sie; Toto sah sich zum Abschied um. Morgen hätte er sein Bett und sein Schlafzimmer sowieso verlassen müssen. Er wäre in den dritten Stock zu den Großen verlegt worden, zu fremden Leuten, mit getrennten Schlafzimmern. Hier unten hielten die Mädchen die Jungs von grobem Unfug ab. Da wurde nicht onaniert, nicht aus dem Fenster gepinkelt, nicht geschlagen. Auf seltsame Art bremsen Mädchen den natürlichen Schwachsinn der Jungen. Oben wäre er verloren unter pubertierenden, pickligen Männern mit großen Füßen.
    Frau Hagen betrachtete seit Minuten eine seiner zu kurzen Hosen. Sie war erstaunt, über ein Gewissen zu verfügen, ertappte sich bei etwas wie der Sorge, den Jungen wegzugeben, in eine Zukunft, die sicher nicht angenehm war, doch sie wollte die Verantwortung für diesen

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