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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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unklare Art hatten sie sich aufgelöst. Zurück geblieben waren traurige Männer, die mit den Landwirtschaftlichen Produktionsstätten einen Verfallswettbewerb auszutragen hatten.
    Die Traktorenleichen lagen an der Hauptstraße, das Kopfsteinpflaster war immer feucht, der Laden im Dorf hatte geschlossen. Den Krug gab es noch. Der Wirt war in unglaubhafter Geschwindigkeit vom Freizeitalkoholiker zum Pflegefall geworden, er saß vom Morgen an mit seinen Gästen, den verbliebenen Männern, und trank.
    Ab und an schwankte einer aus der Kneipe, um die Kühe zu melken und die Kadaver der verstorbenen Tiere zu entsorgen. Vielleicht lagen auch die Leichen der Frauen in den Häusern, man würde es nicht herausfinden, denn ein strenger Geruch schwebte ständig über dem Dorf.
    Toto glaubte nicht an den Erfolg von Demonstrationen. Er misstraute der Masse, sie hatte sich noch nie richtig entschieden, soweit er seinen Geschichtsbüchern Glauben schenken wollte. Es zog ihn nicht in den kapitalistischen Teil der Welt, es trieb ihn nirgendwohin, doch er wollte gerne sehen, ob Menschen glücklicher waren, wenn ihnen scheinbar alle Möglichkeiten offenstanden.

Und weiter.
    Toto war mit einem Zeugnis, das ihn durchaus zufriedenstellen konnte, wenn er sich dafür interessiert hätte, aus der Schule entlassen worden. Die Feier in der Aula war ein zum Staunen erbärmlicher Akt gewesen, wenn man bedenkt, dass die meisten der Kinder zehn Jahre miteinander verbracht hatten. All die Kriege, Liebesgeschichten, Demütigungen hätten sie verbinden müssen, doch was am Ende blieb, fand auf einer Sperrholzbühne statt, da standen sie und taten, als ob sie sich nie zuvor gesehen hätten, als ob ihnen all die Geheimnisse, die sie miteinander teilten, peinlich wären. Sie hatten sich schöngemacht und wirkten doch schon wie auf einem Foto gefangen, das sie dreißig Jahre später mit Scham betrachten würden.
    Der arme Klassenlehrer hatte eine Lungenkrankheit und keine Frau, und die Mädchen hatten sich immer so geekelt vor seinen feuchten Händen an den falschen Stellen. Die Mädchen. Die nun in eine prächtige Zukunft als Köchin oder Verpackerin gingen. Und sich irgendwann an die Hand des Lehrers erinnern werden als an die Zeit, in der sie noch ein wenig Macht gehabt hatten.
    Das Rednerpult, an dem der Direktor stand, war mit rotem Stoff umhüllt, Toto starrte verstört auf die Büroklammern, die ihn zusammenhielten, und auf den Fuß des Direktors in seinem Kunstlederschuh mit durchgestoßener Kuppe. Vom Tonband die Nationalhymne, ein Strauß Papiernelken am Boden. Der Raum strahlte eine fast alberne Trostlosigkeit aus. Wenigstens tropfte kein Wasserhahn, und kein Pferd mit Holzbein stand vor dem Vorhang. Toto starrte auf die Kuppe des Direktorschuhs.
    Die Schuljahre waren angenehm nichtssagend gewesen. Für die Dorfjugend war Toto der vertrottelte Dicke, vielleicht war er ja ein Mongo, damit kannten sie sich aus, die sind gefährlich, die schlagen zu, die werden wütend. Sie ließen ihn in Ruhe. Keiner hätte sich allein gegen den Zweizentnerriesen gestellt, man hätte sich verabreden müssen, um ihn zu Fall zu bringen, und dafür waren sie hier auf dem Land zu träge, zu müde von der Stallarbeit, matt hatten sie ein paar Steine nach Toto geworfen und das Interesse verloren. Die jungen Leute vom Lande schienen sich im Mittagsschlaf zu befinden. Gehässigkeit erfordert Energie, und über die verfügte keiner. Nach dem Unterricht gingen die Schüler wie ernste kleine Steuerbeamte zurück in ihre sich gleichenden Leben, die bestimmt waren von Kälte und Stallgeruch.
    Toto ahnte, dass er sich später an nichts hier würde erinnern können. Weder an das Kopfsteinpflaster auf dem Schulhof, das lange zweistöckige Gebäude mit grauem Verputz, die Turnhalle mit ihrem Geruch von Generationen Kinderschweiß und Turnschuhen, die Schulglocke, die klang wie eine Sirene beim Fliegerangriff, noch an die Fahnenstange, an der jeden Morgen die Flagge des Landes gehisst wurde, dazu ein Lied, dessen erste Zeile: Auf, auf zum Kampf, zum Kampf, zum Kampf sind wir geboren, keinen außer Toto zu verwirren schien. Wogegen sollten sie kämpfen, diese müden jungen Menschen?
    Es wäre eine zu grobe Vereinfachung zu behaupten, dass die gesamte Landbevölkerung einen asozialen Reigen der Verwahrlosung in verfallenen Häusern tanzte. Die Leiterin der Bücherei zum Beispiel versuchte es sich nett zu machen. Sie wohnte in einem frisch verputzten Haus, hatte Blumenkübel

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