Vielen Dank für das Leben
Bezug zu einem Leben, das sie verachteten, sie immer seltener ertrugen. Sie lagen in furchteinflößendem Gestank, die Haare hatten eine Fettschicht im Kissen hinterlassen, als sei das Kissen eine Gussform. Der Geruch schien von ihrem Verstand zu kommen, der verfaulte und etwas ausdünstete, das der Tod hätte sein können.
Und alles nur des Kindes Schuld, das zu fleißig war, das man nicht hörte und das die beiden versorgte. Er versuchte den traurigen Menschen ein schönes Leben zu machen, mit seinen unbeholfenen Versuchen, die Ruine freundlich zu gestalten, er stellte Blumen auf den Tisch, füllte die Schränke. Toto hatte bereits herausgefunden, dass es am einfachsten war, Menschen, von denen er abhing, zufriedenzustellen. Sie vergaßen ihn, wenn ihnen wohl war, die Menschen, ihr Hass suchte kein Ventil, wenn sie in sich saßen und an die Decke schauten.
Die Erwachsenen warteten auf ihr Ende.
Toto wartete auf etwas Neues.
Und weiter.
Trötbach lag nicht im Tal der Ahnungslosen, nicht in jener Gegend, wo die Menschen aufgrund mangelhafter Übertragungstechnik keine Nachrichten aus dem kapitalistischen Ausland sehen konnten und darum, Gerüchten zufolge, liebenswürdige, einfältige Urwesen geblieben waren, unverdorben und rein in ihren Auen saßen, Schubertlieder sangen und sich die blonden Locken kämmten. In den von kapitalistischen Gedanken bewahrten Gegenden zitierte jedes Kind Karl Marx und Rosa Luxemburg, und nicht ohne Grund entstanden die meisten sozialistisch-realistischen Kunstwerke in jenem Teil des Landes.
Toto in Trötbach kannte den Rest der Welt aus Fernsehen und Zeitung. Seine Zweifel an der Richtigkeit der Informationen nährte er durch die Vorstellung, er erhielte den Auftrag, einen Bericht über sein Leben anzufertigen. Fünf Minuten Dauer. Er würde das verfallene Haus zeigen, das Dach war unterdes undicht geworden, und Schüsseln standen ständig bereit, um Regenwasser aufzufangen. Schnitt zu den Eltern in ihrem Schlafzimmer. Schnitt zu Toto, ein großgeratener Fleischklumpen, der neben den Kühen steht und singt. Die Kamera würde auf den Schrotthaufen schwenken und auf Krähen, die mit gierigen Augen auf seine Beine blickten. Aber das waren ja nur die beeindruckenden Bilder. Das Angenehme war doch nicht darzustellen. Der Geruch nach Land, die freundlichen Tiere, die angenehme Einsamkeit nach dem Verschwinden der Eltern, das war doch nicht darzustellen. Man benötigt Übertreibung, um den Menschen zu fesseln, keiner würde Toto beim Ausmisten und Kühestreicheln, beim Lernen oder Notenstudieren eines Berichtes für würdig befinden.
Toto sah Fernsehen.
Wie glückte es diesen Demonstranten nur, sich auseinanderzuhalten. Der Fernsehbildschirm war erfüllt von Jeansblau und Dauerwellen in Mittel- oder Aschblond bei den Frauen, der Mann trug das Haar hinten lang, auch er mit Dauerwelle. Dieser verheerende Hang zur Locke. Zu Kunstlederjacke und Karottenhose. Demonstrationen reizten Totos soziologisches Interesse. Einen braucht es, der laut Parolen ruft, und mit Glück werden ihm andere folgen. Wenn nicht, dann steht man nicht als Anführer einer Revolution auf der Straße, sondern als Geisteskranker. Es ist immer die Angst, der einzige zu sein und nicht zur Gruppe zu gehören, was den Menschen von bleibenden Taten abhält, und wenn es ihm irgendwann egal wird, was die Gruppe von ihm hält, dann wird er zum Amokläufer.
Die Demonstranten im hinteren Teil der Menschenansammlung verstanden vermutlich den Inhalt der Parolen nicht mehr, doch sie verhielten sich wie Menschen in Ansammlungen: Sie machten mit.
Diese halbe Stunde am Morgen, nachdem Toto die Stallarbeit erledigt hatte und vom kalten Wasser auf seiner Haut dampfend in der Stube saß, war eine der angenehmen Inseln, die er sich in seinem Leben eingerichtet hatte. Nichts, das man filmen wollte. Die Kameras schwenkten über die Demonstranten hinweg, ein erstaunlicher Ort mit regem Straßenverkehr. Toto kannte die Stadt, in der er aufgewachsen war, in der es kleine Häuser gab, verfallene Bahnhöfe und eine Fußgängerpassage, an deren Rand Stiefmütterchen in Betonröhren standen. Doch selbst diese Explosion schlechten Geschmacks bot eine fast ausufernde Schwelgerei für das Auge, im Vergleich zu Trötbach. Hier wurde nicht demonstriert, es gab auch kaum Einwohner, die zu solch extravaganten Freizeitbeschäftigungen imstande gewesen wären. In den wenigen Jahren, die Toto hier verbracht hatte, waren alle Frauen verschwunden, auf eine
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