Vielen Dank für das Leben
aufgestellt, ihre Tochter trug Kleidung aus dem Ausland, und die Mutter winkte ihr hinterher, wenn sie zur Schule ging. Immer wieder wurden ihr die Fensterscheiben eingeschlagen, Kot an ihre Türklinke gestrichen. Die Frau Doktor wurde sie abfällig genannt, ja, hier auf dem Land war Bildung suspekt; der Frau, der musste man zeigen, wo ihr Platz war. Ein erfahrenerer Mensch, als Toto war, hätte an diesem kleinen Beispiel menschlicher Gemeinheit hier im Mikrokosmos Dorf verstehen können, dass es sich kaum lohnte, weiterzumachen in der Hoffnung, einen freundlichen Platz zu finden. Ein erfahrenerer Mensch, als Toto war, hätte sich zum Sterben hingelegt im Bewusstsein, dass er nichts verpasste, aber Toto glaubte noch an Wunder. Er war Schulabgänger und sechzehn, was ihn noch nicht volljährig, aber unauffällig machte. Er beschloss, nicht zu seinen Pflegeeltern zurückzukehren. Er wollte sie in angenehmer Erinnerung behalten, er wollte nicht wieder auf der Matratze liegen und frieren unter der Pumpe. Er war in einem Alter, in dem durchaus noch etwas Neues kommen konnte.
Und weiter.
Die Straße führte aus der Kreisstadt, in der sich Totos Schule befand und ein Kleiderladen, der Arbeitskittel und Schürzen verkaufte, und kein Restaurant, hinaus zu Orten, die noch nie ein menschlicher Fuß betreten hatte. Irgendwo am Ende der Welt würde die Straße im Sperrgebiet enden. Die etwa fünf Kilometer breite Zone, hinter der das Böse lebte, durfte nur betreten, wer über einen Personalausweis mit Zonenrandbewohnereintrag verfügte. Die Einwohner des Sperrgebietes mussten ihre Leitern mit Vorhängeschlössern sichern, die nur unter Anwesenheit eines Grenzpolizisten geöffnet werden durften, damit man sie nicht als Fluchtwerkzeuge missbrauchte. Die Grenze, auf welche diese privilegierten Bürger blickten, bestand aus einem etwa zehn Meter breiten und gepflügten Streifen, der teilweise vermint und mit Selbstschussanlagen ausgerüstet war, dahinter befand sich doppelter Stacheldrahtzaun von etwa drei Meter zwanzig Höhe. In Abständen von ungefähr zehn Metern standen Wachtürme, auf Menschen abgerichtete Hunde zogen ihre Bahn, Kontaktdrähte waren verlegt. Auf beiden Seiten der Grenzzäune befanden sich, je nach geographischer Gegebenheit, verschieden breite Zonen, die von jeglicher Vegetation befreit und in der Nacht beleuchtet waren, um ein schönes freies Schussfeld zu gewähren. Der antiimperialistische Schutzwall gab den Einwohnern des Landes das beruhigende Gefühl der Sicherheit.
Toto fühlte sich nicht bedroht, aber sehr angespannt. Der durchschnittlich ermittelte Lebenslauf für einen wie ihn, ohne besondere Eigenschaften und mit mittelmäßigem Schulabschluss, sah eine Ausbildung zum Facharbeiter vor, nachdem er den Sommer über in ein befreundetes sozialistisches Land gefahren wäre, um dort zu zelten. Toto würde in einem Zelt liegen, seine Füße würden ins Freie ragen, Tiere umringten sie und aßen davon.
Im Anschluss dürfte er mit seinen abgekauten Zehen den unterschätzten Beruf des Malers und Lackierers erlernen, würde mit einem Papierhut auf einer Leiter stehen und singen können, denn malen und lackieren müsste er wegen des Farbenengpasses in dem kleinen sozialistischen Land vermutlich selten. Drucker, Setzer, Lastwagenfahrer könnte er werden, unendliche Möglichkeiten, von denen ihn keine interessierte.
Die Sonne stand tief, und Toto wusste, dass sein Schatten gigantisch wirkte. Es war schade, dass kein müdes Pferd neben ihm trabte.
Die Landstraße ließ Toto fast albern langsam werden. Er war von einem dermaßen ausgeglichenen Charakter und seine Energie gedämpft, dass jede weitere Beruhigung von außen die Gefahr eines Herzstillstandes mit sich brachte. Sein Körper wirkte immer noch wie der eines Babys, mit der gut verteilten Rundlichkeit, seine Haut war sehr hell, sein Gesicht war nicht das eines pubertierenden Jungen, und für ein Mädchengesicht war es zu groß, keine Einordnung mochte greifen. Am ehesten wirkte er wie eine von einem Kind angefertigte Zeichnung. Toto konnte selbst mit offenem Mund in den Horizont starren, ohne dass es abstoßend aussah. Für einen Menschen seiner Größe konnte die volkseigene Textilindustrie nicht eingerichtet sein, sodass alle seine Hosen und Jacken etwas zu knapp waren, was Totos unbeholfene Ausstrahlung verstärkte. Toto hatte leise zu singen begonnen; wenn er schon Maler und Lackierer ohne Farben werden sollte, könnte er den Teil, da er arbeitslos
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