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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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Sex gehabt und es nicht besonders genossen, nun schliefen die meisten alleine, aber mitunter eben schlecht, wenn sie an ihr Erspartes dachten, das nun in einer alten Schule steckte, die bald einer Startbahn würde weichen müssen. Raimund gesellte sich während der Mahlzeiten nie zur Gruppe, vermutlich wollte er sich einen übermenschlichen Status bewahren, einen von jeder materialisierten Energiezufuhr und Ausscheidung befreiten Organismus, der sich von Licht ernährt. Die Meister des Pranaismus verzichten auf Nahrung und Flüssigkeit, um sich von kosmischen Partikeln zu ernähren. Die normalerweise für Verdauung verbrauchte Energie wird auf diese Weise für ein spirituell intensiviertes Dasein genutzt, hatte Raimund irgendwann erwähnt, und er achtete sorgfältig darauf, die leeren Wurstverpackungen aus seinem Zimmer zu entfernen.
    Toto hatte über all die Wochen zu niemandem ein Verhältnis entwickelt. Er fühlte sich im kapitalistischen Teil des Landes, als sei er auf einem fremden Planeten ausgesetzt worden. Wie wenig doch Menschen verbindet, selbst wenn sie dieselbe Sprache sprechen, dieselbe Geschichte teilen und die vielleicht alle miteinander verwandt sind. Toto konnte kaum benennen, was die größten Unterschiede im Charakter der kapitalistisch und der sozialistisch aufgewachsenen Menschen ausmachte, hauptsächlich war es wohl Angst. Die Bevölkerung im sozialistischen Teil der Welt hatte nichts zu verlieren, was ihre Furcht sehr überschaubar machte.
    Toto war als Flüchtling registriert und von den Besatzungsmächten interviewt worden, er bekam einen Ausweis, in dem sein Geschlecht als männlich bezeichnet wurde, 200 Mark Begrüßungsgeld und eine Berufsberatung, bei der ihm nahegelegt wurde, den Beruf des Malers und Lackierers zu erlernen, worüber Toto gern eine Nacht schlafen wollte. Toto beschloss, in Ermangelung weiterführender Ideen bei der Gruppe zu bleiben, in seinem Zimmer, das einen angenehmen Ausblick auf alte Bäume bot.
    Toto erhielt Krankengeld, ein Trick vieler Ostflüchtlinge, um nicht mittellos zu sein, bis ihre Anträge auf Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe bearbeitet waren. Raimund hatte ihn beraten, das Geld lieferte Toto bei der Gruppe ab, die sich darüber freute, denn durch den Erwerb und den Umbau der alten Schule brauchte man jede Hilfe, auch arbeitete keiner mehr, denn die Organisation des Kampfes erforderte alle Aufmerksamkeit der Kernzelle. Überdies stand immer noch die Überlegung an, wie man ohne Waffen einen bewaffneten Widerstand aufbauen sollte. Da war Kreativität gefragt.
    Komm, sing uns was vor, bat Hans jeden Abend, seit er Toto im Bad belauscht hatte, und manchmal folgte der Junge seiner Bitte. Dann stand er im Speisesaal, sang eine Viertelstunde, während die Frauen sich wiegten und dabei wie üblich verspannt aussahen. Die Männer, Toto konnte sie unterdessen von den Frauen unterscheiden, waren latent unglücklich. Es verlangte sie nach jungen Geschlechtspartnerinnen, die politische Tätigkeit am Rande der Legalität ließ ihre Hormone verrücktspielen. Die ständigen Streitereien, der verbissene Ton der Erwachsenen, ihre dauernde Geilheit, alles machte Toto unruhig. Er sang, und er versetzte seine Zuhörer in Erstaunen mit seinen Liedern, die immer lauter und inniger wurden, auf eine Art, die fast Befremden erzeugte. Du musst eine Ausbildung machen, drängte Hans, dessen Namen sich Toto sehr schnell gemerkt hatte, wegen des trockenen Speichels in Hans’ Mundwinkeln. Davon abgesehen war er kein schlechter Kerl, nur seine feuchten, kalten Hände, die er zur Bekräftigung seiner Speichelworte an seinem Gesprächspartner anbrachte, befremdeten. Hans, der sich als Totos Mentor fühlte, fuhr fort: Du musst das lernen, dich an der Musikschule hier vorstellen. Vermutlich werden sie dich annehmen, dann kannst du später Geld damit verdienen. Das ich der Gruppe zur Verfügung stellen kann, dachte Toto.
    Eine Gesangsausbildung. Die widerstrebte Totos Prinzip, nichts zu wollen, doch gut singen können, das wollte er gerne.

Und weiter.
    Die Bulldogge hatte sich den einzigen gutriechenden Menschen der Gruppe gesucht und lag nun jede Nacht auf Totos Füßen. Toto war froh, dass ihn keiner nach seinen neuen Bekannten fragte, er hätte sagen müssen: Mit dem Hund verstehe ich mich ausgezeichnet, aber die Menschen und ihre Ideen sind mir fremd geblieben. Das ist alles zu unklar und sprunghaft. Dass man einen Flughafen bekämpfen will, in Ordnung, das ist eine feine Sache,

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