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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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guter Zustand.

Die Freunde nannten Herrn Müller-Degenbart einfach nur Kurt.
    Seit seine Frau ihn verlassen hatte, waren die Besuche der Freunde selten geworden, sodass Herr Müller-Degenbart von fast niemandem mehr einfach nur Kurt genannt wurde. Seit seine Frau ihn verlassen hatte, war die Frau von Herrn Müller-Degenbart eine Quelle für abstoßende Vermutungen in der Stadt. In der wohnten zwar fast eine halbe Million Menschen, doch darunter viele Türken, die man nicht richtig dazuzählen wollte, Italiener, Gastarbeiter in der zweiten Generation, die galten nicht, weil sie nichts von den Alteingesessenen verstanden, von den besseren Kreisen, den alten Familien und ihren seit vielen hundert Jahren verbundenen Geschichten. Redeten Leute wie Müller-Degenbart von den Menschen in ihrer Stadt, dann meinten sie damit vielleicht dreihundert Familien, Honoratioren, Professoren, Politiker und Künstler, deren Vorfahren die Stadt begründet hatten. Man kennt sich, redet übereinander, in jeder Familie gibt es unliebsame Vorfälle, die von den anderen nie vergessen worden sind, die Geschichte von Müller-Degenbarts Frau gehörte von nun an für sicher hundert Jahre dazu. Frau Müller-Degenbart war mit einem Gesangsschüler ihres Mannes verschwunden. Die Frau war über vierzig. Der Schüler unter zwanzig. Verständlich, dass man sich noch lange an diesem Thema erfreute. Mit diesem unfassbar peinlichen Abgang hatte Müller-Degenbarts Frau nicht nur einen älteren Mann, ihn, in der leeren Küche zurückgelassen, mit leerem Konto auf der Bank und leerem Ehebett, sie hatte ihn zum Gespött gemacht und ihm seine Heimat genommen. Müller-Degenbart musste nun, damit er weiterhin als ehrbarer Bürger in seiner Gemeinde verkehren konnte, Außerordentliches leisten, sich verdient machen, um die Schande vergessen zu lassen. Dann hieß es zwar nach zwanzig Jahren immer noch: Sie erinnern sich ja sicher an die Geschichte mit seiner Frau, die mit einem Kind durchgebrannt ist, aber er hat doch Ungeheures für unsere Stadt getan. Als Direktor der Musikschule war es ihm gelungen, internationale Lehrkräfte zu gewinnen, mit denen der Ruf des Institutes als hervorragende Ausbildungsstätte über die Grenzen der Stadt und des Landes wuchs, es gab weit mehr Bewerbungen als Studienplätze, und das, um es nur am Rande festzuhalten, war ausschließlich Müller-Degenbarts Verdienst. Wenn er nun durch die Straßen lief, meinte er ein leises Raunen zu vernehmen: Seht an, da ist Müller-Degenbart, er hat zwar keine Frau mehr, aber was hat er sich um die Qualität unseres Lebensbereiches verdient gemacht!
    Ein Höhepunkt in Müller-Degenbarts höhepunktarmen Leben war die jährliche Aufnahmeprüfung neuer Studenten. Da musste er anwesend sein, da musste er Obacht geben, da galt es das Niveau zu verteidigen. Müller-Degenbart betrachtete die Anwärter für einen Studienplatz im nächsten Jahr wohlwollend beim Vorsingen. Nach einigen untalentierten Mädchen aus der Provinz, die er mit hochgezogener Braue und inneren Spaziergängen überstanden hatte, kam es. Bereits als der junge Mensch den Raum betrat, schien es, als ob alle sechs Anwesenden der Prüfungskommission zischend die Luft einzögen. Herr Müller-Degenbart hatte Vergleichbares noch nie zu sehen oder hören bekommen. Ein Riesenmädchen, das aussah wie ein Junge, mit einer hohen Falsettstimme, dem beim Vorsingen die Tränen über das Gesicht liefen. Erscheinung und Gesang wirkten so abstoßend intim, als wenn man ihm beim Geschlechtsverkehr zusähe oder beim Gebären, Sterben. Unangenehm berührt blätterte Müller-Degenbart in den Bewerbungsunterlagen. Ha, da schau her. Der Junge, der wohl ein Mädchen war, wohnte zu allem noch bei der Kommune, den Startbahngegnern, dem Dorn im Fleisch der Gemeinde. Herr Müller-Degenbart wollte so etwas nicht in seiner Stadt, es ekelte ihn an, die Stadt ekelte ihn an, er wollte sie frei haben von aller Sexualität, er wollte, dass sie nur noch ein Ort der Kunst war, des reinen Klanges. Müller-Degenbart schaffte es trotz seiner Übelkeit, nach dem Vortrag in lautes Gelächter auszubrechen. Danach verließ er zügig und voll Abscheu den Raum.

Und weiter.
    Die Taubheit des Körpers ließ im Laufe einer Viertelstunde nach, das Gehirn nahm seinen Dienst ungefähr zur selben Zeit wieder auf. Es ist nicht wichtig, nichts ist wichtig. Sagte sich Toto, er lief durch die Stadt und wusste, dass Beschwörungen funktionierten, schau dir die Schlangen an und ihren

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