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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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kam, denn die Zeit des linken Aufstands war vorbei, die Mitglieder von RAF und Roten Brigaden hatten sich umgebracht oder saßen in Hochsicherheitsgefängnissen, doch Raimund war es mit einer Mischung aus Kommunismus und Esoterik gelungen, wütende Menschen mittleren Alters um sich zu versammeln, die ihm ein angenehmes Leben ermöglichten. Das wirtschaftliche und politische Umfeld, in dem der Revolutionäre Kampf entstand, wird bestimmt durch die Monokratie der USA, die wirtschaftliche Globalisierung, den Neoliberalismus, eröffnete Raimund die Sitzung, dann hielt er inne, er hatte den falschen Vortragszettel vor sich liegen. Es sollte die morgige Demonstration gegen die Startbahn verhandelt werden. In Raimunds kleinem Anwaltsbüro hatte die Bewegung begonnen. Der Flughafen der nächstgrößeren Stadt sollte erweitert, eine neue Startbahn gebaut werden, die den Landbesitz vieler Ortsansässiger entwerten und ihre Nerven mit Lärm belästigen würde. Raimund druckte Flugblätter, er machte Eingaben, es betraf ihn persönlich, am Anfang, bis er merkte, dass in der Sache das Potential einer Bewegung steckte. Raimund hielt Reden, er betreute Betroffene, es gefiel ihm, mehr als nur ein mittelmäßiger Anwalt in einer kleinen Stadt zu sein, er spürte Macht, er wollte mehr davon. Nach einem Jahr, die Gruppe war auf zehn Personen angewachsen, fand Raimund das alte Schulgebäude, und die Gruppenmitglieder leerten ihre Sparguthaben, verkauften ihre Wohnungen, Ehepartner, ihre Autos und Ketten, um all das Erwirtschaftete auf Raimunds Konto zu übertragen, denn das Geld würde in der kleinen kommunistischen Gemeinschaft allen gehören, der Privatbesitz abgeschafft. Die alte Schule befand sich auf dem Gebiet, das von der Flughafenerweiterung betroffen war und ihr weichen sollte. Sie müssen uns schon tot aus dem Haus tragen, betonte Raimund gerne. Er war zu einem Revolutionsführer geworden. Er ließ sich die Haare wachsen. Er war der neue Che, der neue Baader, der neue Dutschke, der neue Führer der Zelle des gelebten Widerstands, von dem aus die lokale Bewegung Nieder mit der Flughafenerweiterung eine landesweite geworden war, die dem Unwohlsein vieler einen Namen gab. Es waren vornehmlich ältere Menschen, die sich gegen den Flughafen engagierten, froh, eine Aufgabe gefunden zu haben, und glücklich, nicht mehr allein zu sein mit ihrer Wut, die sich bei vielen in den mittleren Jahren eingestellt hatte, weil sie zu müde waren, um immer Neues zu lernen, sich an die wachsende Geschwindigkeit anzupassen, da war doch keiner belohnt worden für all die Mühe des Lebens, und dabei hatten sie immer, und sie betonten: Immer alles richtig gemacht. Hans ergriff das Wort außerhalb des Protokolls. Mein Haus wäre das erste, das weichen müsste, benennen wir die Sache doch beim Namen, Genossen. Für die Erweiterung müssten über 200 Hektar Wald gerodet werden. Der Wald, das ist doch gelebter Widerstand gegen die Betonierung der Großstädte. Die Gruppe nickte, sie hatte die gleichen Sätze von Hans schon ungefähr eintausendmal gehört. Hans war der Verwalter der Gruppe, in seinem Zimmer schlief er neben Tonnen von Papier, Dokumente des bürokratischen Kampfes, den er seit Jahren ausfocht, bevor er zur Gruppe des unbewaffneten Widerstandes gekommen war: Mein Vater war als Kommunist während der NS-Zeit im Konzentrationslager. Ich selbst bin nach dem Krieg erst in die KPD und, nachdem diese verboten war, in die DKP eingetreten. Sagte Hans. Ja, Hans, wir wissen das, sagte Raimund, der mit einem einzigen Satz wieder Ruhe in die Gruppe bringen konnte.
    Es gab keine Sektenführerinnen oder Terrorgruppenführerinnen, ebenso wenig wie Frauen in einer der großen Religionen eine Rolle gespielt haben.
    Der Grundstein einer neuen Wutgesellschaft war gelegt. Ein schönes, solides Fundament, auf dem die nächsten fünfzig Jahre Protestbewegungen gebaut werden konnten. Der Zusammenhalt, das gemeinsame Ziel, der sexuelle Rausch des Verbotenen, das Gefühl, auf der richtigen Seite zu sein, das konnte man an jenem Abend in der Gruppe der Flughafengegner beobachten. Und Toto durfte dabei sein.
    Die Planung des aktuellen Protesttages musste jedoch in seiner Abwesenheit weitergeführt werden, denn Toto war eingeschlafen.

Und weiter.
    Die Gruppe fand sich jeden Morgen bei Gerstenkaffee und Haferflockenbrei, die Gespräche über eine anstehende neue Weltordnung waren schleppend, die Nächte waren nicht mehr besonders anregend, jeder hatte schon mit jedem

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