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Vielen Dank für das Leben

Vielen Dank für das Leben

Titel: Vielen Dank für das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Berg
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reden, sagt Tim, jetzt, und ich bin schwul, er schreit fast. Der Vater lässt die Zeitung sinken, er bekommt einen Infarkt, die Mutter sinkt zu Boden, und Tim staunt, zwei unglücklichere heterosexuelle Menschen als seine Eltern kennt er doch nicht, soll das die Lösung sein? Diese große Furcht der Menschen, dass die Evolution boykottiert werden könnte. Irrational. Sie würden es ja, wenn keiner sich vermehren möchte, gar nicht mehr erleben.
    Toto war vor dem ersten Besuch im Café nervös gewesen, im sozialistischen Teil des Landes hatte es keine Schwulen gegeben, Toto fragte sich, ob man sie sofort erkennen würde und was ihr Geheimnis wäre und ob er hier Menschen finden würde, die ihm nah waren.
    Keiner fühlte sich wie die anderen. Die Menschen sind doch immer zu dick, zu dünn, sie sind taub oder blind, Contergan-Opfer, die Eltern geschieden oder Trinker oder zu spießig, sie sind homosexuell oder sexsüchtig oder asexuell, zu groß, zu klein, sie haben Autismus oder Epilepsie, Herzprobleme, Schweißfüße, einen Buckel, Akne, keiner entspricht der Norm, und selbst aus Metall gestanzte Figuren wie Bankangestellte und Versicherungsmitarbeiter, Anwälte und Mitarbeiter diverser Aufsichtsräte leiden unter Blasenschwäche. Als Teil der Welt, die doch allen gleichermaßen gehört, fühlt sich keiner.
    Die Homosexuellen schienen Toto näher als alle, denen er bisher im Kapitalismus begegnet war, doch auch sie machten ihm schnell durch offensives Desinteresse klar, dass er keiner von ihnen war. Auch sie hatten ein gemeinsames Schicksal, das Toto nicht mit einschloss.
    Im kapitalistischen Teil des Landes waren homosexuelle Handlungen bis 1969 strafbar und wurden verfolgt, das oberste Gericht befand 1957, gleichgeschlechtliche Betätigungen verstießen eindeutig gegen das Sittengesetz, und Homosexuelle durften sich nicht auf das durch das Grundgesetz garantierte Recht auf freie Entfaltung berufen. Es wurden über fünfzigtausend Männer verurteilt und hunderttausend Ermittlungsverfahren eingeleitet, bei Frauen nahm man es nicht so genau, da zwinkerte man und sagte: Na, wenn sie mich zuschauen lassen. Neunzehnhundertneunundsechzig wurde gleichgeschlechtlicher Sex unter Volljährigen legalisiert, die polizeiliche Sammlung der Daten von Homosexuellen wurde fortgesetzt. Die kleine Normalität fand mit Aids ihr Ende. Erregt ergriffen Christen die Gelegenheit, um von der Strafe Gottes zu reden. Die Kampagne wurde hauptsächlich von christlichen Frauen getragen, die ihre Nächstenliebe kurzfristig verdrängten. Schwule waren ihnen nicht Brüder und Schwestern, sondern das Gegenteil von ihren eigenen Lebensentwürfen.
    Die Besitzer des Cafés hatten alles gegeben, um optisch ein Zeichen der Andersartigkeit zu setzen, der Fußboden schwarz, farbige Neonröhren an der Wand, unbequeme Bestuhlung, unpraktische Tische, keine Blumen. Fast alle hier im Café waren in Eigenheimen groß geworden, die Großeltern hatten gespart, die Eltern geheiratet, und dann musste es ein eigenes Eigenheim sein, eine Pest in diesem Teil des Landes, abgezirkelte Grundstücke, begradigte Gärten, in denen man steht, die Nachbarn hasst und Angst um sein Eigenheim hat. Alle besaßen einen Bausparvertrag, das war eine angenehme Vorstellung, dass alle in diesem Café einen verdammten Bausparvertrag besaßen, sosehr sie auch anders waren. Da hatten sie am Christopher Street Day für die Rechte der Schwulen demonstriert, ihre Eltern verlassen, um in vergammelten Wohngemeinschaften an Hauptstraßen zu sitzen, in Zimmern, in denen nie Blumen standen, doch ihren Bausparvertrag, den hatten sie nicht gekündigt, und sie sahen so reizend normal aus, die Männer trugen die Haare kurz, manche in Lederhose, die Mädchen, die mit ihren Freundinnen dasaßen, waren vorrangig unauffällig, leise versuchten sie, nicht angesehen zu werden und all diesen Wahnsinn nicht zu hören, da muss nur mal ein richtiger Mann kommen, ist doch klar, dass sie lesbisch ist, bei dem Aussehen, wer ist denn eigentlich der Mann bei euch? Den Männern sagte man so etwas nicht, die schlug man direkt, ohne Vorwarnung.
    In diesem Café würde Toto nicht finden, was er suchte. Auch ohne zu wissen, was genau es war. Er gehörte nicht hierher. Er würde morgen vorsingen. Und er hatte ein wenig Angst davor, denn die Bilder, die er hatte, unterschieden sich so angenehm von allem, was er kannte. Er sah Flügel, geöffnete Fenster, lange Flure, in denen Musik zu hören war. Toto wollte etwas. Kein

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