Vielleicht Esther
etwas in mir, wie ist das mit dem Zölibat und dem Willen Gottes, wenn ich ihn so lieb habe? Ich erinnere mich ganz genau daran, dass ich fest an Gott glaubte, in ebendiesem Moment, in dem ich Schönheit mit Begehren verwechselte, ein Glaube, der erst dadurch möglich wurde, dass ich etwas vergessen hatte, ich wusste aber nicht genau, was.
Meine nun mit Silber geschmückten und ausgerüsteten Kiewer Mitreisenden, die damals in Polen als Russen gal
ten, waren an diesem Tag ungewöhnlich schweigsam, sie quietschten und quatschten nicht, sondern stellten dem Pfarrer vernünftige Fragen über Gott, die Kommunisten und besonders über die Wirtschaftsreformen, und ihr Ernst zeugte davon, dass auch sie aus ihrem Albtraum noch nicht ganz erwacht waren und seine Spukbilder immer noch auf langen dünnen Beinen vor ihren Augen galoppierten.
Natürlich weiß ich, dass wir durch dieses Tor gegangen sind, ich weiß, was auf diesem Tor steht, so wie ich weiß, was zwei mal zwei ist, wie Bruder Jakob geht oder das Vaterunser, nur kenne ich das nicht so gut, ich weiß genau, was über dem Tor steht und dass ich deswegen die Arbeit so hasse, selbst das Wort, das sich niemals, mit keinem Geld oder Gedicht von diesem Spruch, von diesem Fluch wird freikaufen können, und dass ich überhaupt keine Einstellung zur Arbeit finden kann, weil ich immer frage, wohin es mich mit dieser Arbeit treibt, weil es stimmt, was von der Freiheit hier gesagt wird, und es gibt hier keine Lösung. Ich weiß, wie die Wege verlaufen, ich weiß, was es zu sehen gab, was ich dort hätte sehen können, denn ich habe später die Baracken, die Container, wie aus dem Großhandel, und das ganze Gelände mehrmals gesehen, oft genug, um es mir ins Gedächtnis einzuprägen, aber von jenem Tag habe ich nichts in Erinnerung.
Ich habe versucht, diese Amnesie, die mir wie eine dicke Milchglasscheibe vorkam, mit späteren Eindrücken zu überkleben, nichts hat gehalten, alles verschwand wie vorjähriges Laub, und ich sah nur einen goldenen Herbsttag mit Mischwald am Rande eines Gemäldes.
Ariadnefaden
Viele Jahre sind vergangen, seit meine Babuschka Rosa gestorben ist, aber immer noch finde ich ihre Haarnadeln, die sowjetischen schwarzen Haarnadeln aus mir unbekanntem biegsamem Metall, die mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums aus dem Handel verschwunden sind, vielleicht wurde das Rohmaterial in einer unserer Republiken produziert, die Klammern selbst aber in einer anderen und dann irgendwo in Asien in Papierchen gepackt, um später wieder ins Zentrum transportiert zu werden, denn alles wurde damals in planwirtschaftlicher Willkür gefertigt. Ich finde Rosas Haarnadeln in allen Städten der Welt, in Hotels, auf modernen Bahnhöfen, in den Gängen von Zügen und in fremden Wohnungen, als hätte Rosa sich kurz vor mir an diesen Orten aufgehalten, als wüsste sie von meiner Verlorenheit und zeigte mir mit ihren Haarnadeln den Weg nach Hause – sie, die niemals ins Ausland gereist war.
In den letzten Lebensjahren schrieb Rosa unablässig und in großer Eile an ihren Memoiren, mit Bleistift auf weißem Papier. Das Papier vergilbte schnell, als wollte es seiner natürlichen Alterung zuvorkommen, aber Rosas Erblindung war schneller. Sie numerierte die Blätter nicht, sondern legte sie nur aufeinander. Ahnte sie, dass es unnötig war, eine Reihenfolge festzulegen, wenn sich schon die Zeilen nicht entziffern ließen? Oft vergaß sie, ein neues Blatt zu nehmen, und schrieb mehrere Seiten auf dasselbe Papier. Eine Zeile ragte in die nächste hinein, eine weitere legte sich dar
über, sie überlagerten sich wie Sandwellen am Strand, einer Naturkraft gehorchend, verknäulten sie sich im Bleistiftgekritzel, gehäkelte und gewebte Spitzen.
Rosa kritzelte mit ihren Zeilen gegen die Blindheit an, sie häkelte die Zeilen ihrer entschwindenden Welt. Je dunkler es um sie herum wurde, desto dichter beschrieb sie die Blätter. Manche Stellen waren unentwirrbar wie verfilzte Wolle, die Kartoffelpreise Ende der achtziger Jahre verknoteten sich mit Erzählungen aus dem Krieg und von flüchtigen Begegnungen. Das eine oder andere Wort sickerte durch das wollene Dickicht, die »Kranken«, »Moskau«, »Herzblut«. Jahrelang dachte ich, sie ließen sich entziffern, in Amerika gibt es Geräte, die solche Zeilen entwirren können, bis ich verstand, dass Rosas Schriften nicht zum Lesen gedacht waren, sondern zum Festhalten, ein dick gedrehter, unzerreißbarer Ariadnefaden.
Sie
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