Vielleicht Esther
saß am Fensterbrett in unserem Hochhaus in der Uliza Florenzii wie an einem Tisch. Sie sah draußen genauso wenig wie drinnen und schrieb.
Das einzige, was ich noch mit der Hand schreibe, sind Telefonnummern, in ein kleines, mit der Schrift von Leonardo da Vinci geschmücktes Telefonbüchlein, das ich vor Jahren in Florenz gekauft habe, und wenn ich Leonardos kultivierte Schnörkel sehe, aus einer Zeit, in der man noch glaubte, der Mensch sei das Maß aller Dinge, denke ich immer an Babuschkas unlesbares Spitzengekritzel.
Rosas Hände, die in der Gebärdensprache immer lebendig waren, fanden auch im Ruhestand keine Ruhe, sie wollte kochen, konnte aber nicht, denn sie sah nichts, und ihre
Hände folgten nun anderen Gesetzen. Sie hatte ihr ganzes Leben mit Gehörlosen verbracht, sie sprach jeden Tag Gebärdensprache, ihre Schüler nannten Rosa Mi-ni-a-tur-na-ja-mi-mi-ka, Miniatur-Mimik, als wäre es ihr Name, als hätten sie die Silben ihres vollen Namens Ro-sa-li-ja-A-si-li-jev-na gezählt, sie in Gebärden übersetzt und dann zurück in die Lautsprache, damit wir es auch verstehen. Rosa habe die schönste und scheueste Mimik aller Hörenden gehabt, erzählte mir eine alte Lehrerin aus ihrer Schule.
Als ich Rosa kannte, war sie fast blind, sie konnte kaum mehr Umrisse erkennen und verwechselte mich mit meinem Vater oder mit meinem Bruder. Nie mit meiner Mutter, ihrer Tochter, denn meine Mutter war selten zu Hause. Rosa war in einen Blindenverein eingetreten, und nun fuhr sie durch die ganze Stadt und brachte anderen Blinden Pakete mit Lebensmittelrationen, die vom Verein verteilt
wurden: ein mageres blaues Küken, eine Tüte Buchweizen, etwas Kondensmilch und eine Dose Sprotten. Lange verstand ich nicht, warum sie anderen half, die oft längst nicht so blind waren wie sie, und ihr niemand.
Einmal sah ich, wie sie die Straße überquerte, sie konnte die Ampeln und Autos nicht sehen, dafür ihr geheimes Ziel, das den anderen Passanten verborgen blieb, die Blinden und ihre Lebensmittelpakete. Sie stürzte sich hinaus auf die Fahrbahn, als wäre es eine Bühne. Ehe ich schreien konnte, war sie schon mitten im unaufhörlich dahinbrausenden Strom. Die Autos bremsten, als bringe eine unsichtbare Hand sie weich zum Stehen, man hörte kein Quietschen, als wären wir für einen kurzen Moment in die Welt der Tauben übergesiedelt. Offenbar hatte Rosa Engel, die über sie wachten. Wie sie die Haltestellen, Nummern, Adressen, Eingänge, Stockwerke, Wohnungen und Menschen fand, ist mir noch heute ein Rätsel.
Rosa war unabhängig und stur, sie ließ sich von niemandem helfen, sie kam gar nicht auf die Idee, dass sie Hilfe brauchen könnte. Sie sparte heimlich Geld für ihr eigenes Begräbnis, wie es viele Alte taten, die niemandem zur Last fallen wollten, auch nicht nach dem Tod. Dann kam die Perestrojka, die Preise wuchsen wie die Riesen in unseren Märchen, und Rosas Ersparnisse wurden zunichte.
Jedesmal wenn der Zeiger eines uns unbekannten Messgeräts ausschlug, ging Babuschka hinunter zur Bäckerei. Sie kaufte ein Viertel Brot und versteckte es unter dem Kissen. So trickst man den Tod aus, du besorgst dir einen
Brotkanten, und der Tod kann dir nichts anhaben. Je älter sie wurde, desto tiefer sank sie zurück in den Krieg. Meine Mutter war jedesmal entsetzt, wenn sie eines dieser Stücke fand, es war ein verbreitetes Kriegssyndrom, und niemand wusste ein Mittel dagegen.
Ich erinnere mich, wie Babuschka aufrecht vor dem Fernseher saß, am linken Rand, direkt vor dem Bildschirm, stundenlang, schon ohne Brille, denn die Brille leistete ihr keine Hilfe mehr. Ihr Profil ragte ins schwarzweiß flimmernde Fernsehbild. Ich hatte nie ohne sie ferngeschaut, und noch viele Jahre danach spürte ich, wenn ich fernsah oder ins Kino ging, ihre Silhouette vor den Augen, als hätte ich sie damals an meinen Sehnerv angeschlossen. Einmal sang sie vor dem Fernseher die Internationale mit, »Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser, noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun! « , auf Russisch waren wir noch mehr im Elend vereint, sie glaubte daran, und ich glaube ihr bis heute.
Ihre zunehmende Blindheit, so beschwerlich sie den Alltag machte, schien eine ehrenhafte Auszeichnung zu sein, denn Rosa blieb dafür von der Taubheit verschont. Ihr Gehör schärfte und verfeinerte sich, bis sie Stimmen hörte, die es schon lange nicht mehr gab. Je blinder sie wurde, desto
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