Vielleicht Esther
sowjetisch-deutschen Beziehungen bemüht. Warte nur, balde ruhest du auch schwebte über dem Land, Goethes Worte aus einem der berühmtesten russischen Lieder, in der Übersetzung von Lermontow. Das Land zitterte und rezitierte. Auch der Fall Faust wurde aktuell wie nie. In der verstaatlichten Wirtschaft konnte man nichts mehr verkaufen außer der eigenen Seele. Der Volksbildungskommissar Anatolij Lunatscharskij reiste nach Weimar, um die Sowjetunion als Land von Goetheliebhabern zu repräsentieren und an den Weimarer Goethefeierlichkeiten teilzunehmen. Nicht etwa weil das sowjetische Volk den Dichter Goethe verehrte, »sondern um die deutsch-sowjetische Stimmung nach dem Attentat zu verbessern«, wie Time Magazine schrieb. Je mehr Goethe, desto weniger Stern. Warte nur, balde ruhest du auch!, sagt der Henker zum Verurteilten in einem sowjetischen Witz, der vielleicht während des Goethejubiläums entstand, vielleicht auch wegen Judas Stern.
Ein Meschuggener
Es ist verrückt, dass er so heißt, sagte ich zu meinem Vater, das ist der jüdischste Name überhaupt. Es war ein ganz normaler Name, ein ganz gewöhnlicher, erwiderte er. Papa, er hieß Jeguda, Jehude, und sogar wenn er Judas hieß, es bedeutet Jude, nichts anderes, und dazu noch Stern. Iuda ist die russische Version, und Judas ist die deutsche Übersetzung, ein fataler Fehler, denn so hieß der Verräter von Jesus, niemand sonst, vielleicht wollte der Geheimdienst, dass das Volk nun den Namen Judas im Ohr hat, Judas lebt, ein Verräter unserer Politik und unseres Lebens, er hieß aber Jeguda Stern, Jehudas gab es viele unter den Propheten, Philosophen, Dichtern, Geigern, er hätte zwischen Itzhak und Menuhin gestanden. Unter anderen Umständen, natürlich, in einer starken Tradition, seinen Ahnen treu und ergeben, hätte er seine Spuren in einer anderen Sprache hinterlassen, Jeguda Stern wäre ein Visionär geworden und für immer in die Erinnerung der Menschheit eingegangen. Aber ja, die Umstände.
Papa, wie fängt Verrücktheit an? Stell dir vor, wie so ein biblischer Judas im Moskau der dreißiger Jahre herumspaziert, mit einer Pistole in der Tasche, gleich wird die Religion im Lande ausgerottet. Vielleicht sah Bulgakow, als er in den dreißiger Jahren über die ewige, ungestüm atheistisch werdende Stadt schrieb, sein modernes Moskau als Kulisse für die Passion Christi, und die Figur des Pontius Pilatus entdeckte er nur wegen unseres Judas, in den Straßen wimmelte es geradezu von Judassen, jeder hatte bereits
jemanden verraten, vielleicht hatte Bulgakow seinen Mephisto sogar aus dem Prozess um Judas Stern, aber halt, sagte mein Vater, sei ruhig, bleib ruhig, mein Kind, für gläubige Juden war diese Jesusgeschichte nicht relevant, und der Name Judas war bei ihnen nie verdächtig, aber Papa, die Juden waren nicht mehr zusammen und nicht mehr unter sich, und es gab keinen Glauben mehr und kein Wissen und kein Wir, unser Judas war mit dem ganzen sowjetischen Volk auf dem Weg nach nirgendwo, eine Reiterarmee, Papa, auf Steckenpferden und mit Krücken: Dahin! Dahin! Geht unser Weg! Was dachte er selbst über seinen Namen? Wie hättest du dich mit diesem Namen gefühlt?
Ein Jude, der ein Attentat auf einen deutschen Diplomaten verübt, wäre Goebbels und seiner Propaganda wie gerufen gekommen, die perfekte Kreatur. Hätte es Stern nicht gegeben, er hätte ihn sich erschaffen müssen, als einen bolschewistischen Golem.
Judas und Stern, wer, Papa, denkt nicht gleich an den gelben Stern, wenn ich diesen Namen ausspreche? Der Stern strahlt auf der Stirn, wie bei der Schönen im russischen Märchen, und hier ist es ein jüdischer Stern, Mogendovid, der Davidstern. Nur wenige Jahre später, da war unser Held schon tot, wurde der Stern in den Ghettos am Ärmel getragen, ein vorzeitiger Gedanke, wie die Wehen deiner Mutter, Papa.
Du machst aber kühne Vergleiche, sagte mein Vater.
Ist unser Judas Symbol oder Parodie, Symptom oder Auslöser? Er schießt in die Dunkelheit, und Jahre später schießt die Dunkelheit zurück.
War er wirklich verrückt, oder hat ihn die Angst der anderen in diese Rolle hineingepresst? Denn alles, was wir von ihm wissen, wurde entweder von Zeugen erzählt, die zu Tode geängstigt waren und nicht ihre eigenen Worte sagten, oder von Verbrechern, die ihn zu seinem Verbrechen angestiftet hatten.
Papa, ich sehe was, was du nicht siehst, es ist ein Foto von einem Kind. Dein Vater und alle seine Geschwister.
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