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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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wäre.
     
    Ich lese langsam, langsamer, als es war, langsamer als die hastige Aktualität, je langsamer ich bin, desto länger ziehen sich diese nicht besonders stabilen, aber immer noch
schönen Monate hin, April, Mai, Juni 1932, immer mehr Sonne, immer noch vor Hitler, vor dem Reichstagsbrand, und ich finde nichts, was dorthin führen wird; obwohl alles schon in Gang gesetzt ist, schien mir die Welt noch heil zu sein, wenn es nicht mehr so sein wird, wird man einander mit Heil begrüßen, und hier höre ich auf zu lesen.
    Stimmen
    In den ersten Tagen nach dem Attentat war das ganze Land empört, denn Judas Stern, dieser Verräter, hatte sich am sowjetischen Frieden vergriffen. Die Ermittlungen hatten erst begonnen, doch alles stand schon in den Zeitungen: Stern hatte einen Mittäter namens Wassiljew, es gab eine konterrevolutionäre Organisation, und diese wollte Krieg. Ein Chor aus Hunderten von Stimmen johlte das Gleiche.
     
    »Meuchelmörder!«
    »Provokatorische Schüsse!«
    »Politische Absichten!«
    »Kriegsstifter an der Arbeit!«
    »Bürgerliche Terroristen!«
    »Polnische Imperialisten erhoffen die Entfesselung eines Kriegs.«
    »Frankreich hat wieder seine Hand im Spiel!«
     
    In unzähligen Fabriken des Landes fanden Kundgebungen gegen den Provokateur und Kriegstreiber Stern statt, denn
das Land wollte Frieden. Jeder meiner Versuche, die Stimme von Judas Stern herauszuhören, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Feinde haben sich längst verbündet, um einen Krieg gegen die Sowjetunion zu provozieren, verkündet Volkes Stimme.
     
    »Attentäter und Weißgardisten!«
    »Weltkapital und Saboteure!«
    »Wir lassen das nicht zu!«
     
    »Mit dem Attentat bezweckte ich die Hervorrufung von Spannungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland und dadurch eine Verschlechterung der internationalen Lage der Sowjetunion.« Ich höre zum ersten Mal, dass er etwas sagt, doch in der Vernehmung sagt Stern genau das, was alle brüllen. Vielleicht sagt er auch etwas anderes, aber so steht es in der Zeitung, und wir haben nur diese Worte.
     
    In der deutschen Presse flammt der Name Judas Stern überall auf, zwischen Ernst Thälmann, Adolf Hitler und Paul von Hindenburg, denn es sind Reichspräsidentschaftswahlen. Mein Verwandter wurde auf einen Schlag berühmt, wenn auch nur für kurze Zeit. War das sein eigentliches Ziel gewesen?
     
    Niemand aus dem Chor vom März 1932 schien zu bemerken, dass Judas Stern Jude war. Die deutsche Botschaft in Moskau ließ sich von der sowjetischen Kriegsstifter-Hysterie nicht anstecken und vermutete die Gründe für das Attentat in der Missstimmung der Bevölkerung, die Hun
ger litt, nicht zuletzt wegen der Forcierung des Getreideexports, die nötig war, um die Importe aus Deutschland zu bezahlen. Mit seinem Schuss habe Stern gegen diese Zustände protestiert. Es war, als hätten ausgerechnet die Mitarbeiter der deutschen Botschaft Verständnis für seine Tat gehabt, als hätten sie ihn moralisch rehabilitieren wollen.
     
    Botschafter Herbert von Dirksen war vor allem über die Schuldzuweisungen an Polen besorgt, die durch die sowjetische Presse flackerten und von deutschen kommunistischen Zeitungen übernommen wurden. »Piłsudski hat den Attentäter Stern gedungen«, stand in der Roten Fahne , ohne jegliche Beweise, und von Dirksen bat die Korrespondenten der deutschen Zeitungen, Polen auf keinen Fall als mögliche Quelle des Attentats zu nennen. Doch genau dies schien das Hauptziel des sowjetischen Aufschreis: Deutschland davon zu überzeugen, dass Polen hinter dem Attentat stecke und die Aggression aus Polen komme. Dabei war es die Sowjetunion, die nach einem kleinen erfrischenden Nachbarschaftskrieg strebte und dafür gerüstet war. Ganz im Gegensatz zu Deutschland. Eine Entdeckung, die mich noch mehr beunruhigte und beschäftigte als die Suche nach meinem verrückten Stern.
    Goethes Geheimdienst
    Das Gerichtsverfahren musste warten, erst wurde mit großem Pomp ein Jubiläum gefeiert. Als der Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe am 22. März 1832 starb, hätte sich niemand vorstellen können, welche politische Bedeutung die Gedenkfeiern zu seinem hundertsten Todestag in Russland eines Tages erlangen würden, mit Goethefeiern, Goethelesungen, Goethewettbewerben. Der Geheimrat verlieh dem politischen Attentat einen poetischen Rahmen, als wäre sein Titel vom sowjetischen Geheimdienst gesegnet, als wäre Goethe der heimliche Leiter des Geheimdienstes und um die

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