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Vielleicht Esther

Vielleicht Esther

Titel: Vielleicht Esther Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Petrowskaja
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hätte für sie gesorgt, ich hätte für sie auf Schlaf verzichtet, und ich hätte nur für sie geatmet, wie der kleine Prinz. Wir aber hatten niemanden, der für uns auf dem Land lebte, wir hatten kein Stück Erde und teilten einen einzigen Planeten mit der ganzen Menschheit. Meine Mutter unterrichtete, mein Vater schrieb, und die Balkonblumen gaben mir keinen Trost.
    Und plötzlich ein Großvater, ein Landwirt, ein Ukrainer. Er hatte einen Garten, und so hatte auch ich einen Garten. Alle anderen hatten nur Datschas, überall das gleiche Dat
schenparadies, elf Ar, mit Häuschen, Gemüsebeet und praktischem Zeugs von Kräutern bis Tomaten für das schönere Überleben. Mein Großvater hatte einen Garten voller Rosen.
     
    Zum Garten fuhren wir mit der Straßenbahn, der neuen Schnellbahn, die uns auf einer langen Fahrt direkt zu meinem Großvater brachte. Es gab sie nur in diesem Stadtteil, weit vom Zentrum entfernt, eine futuristische Attraktion: Die Schienen hatten keine Fugen und keinen Zaun, und die Straßenbahn fuhr, ohne an Kreuzungen zu bremsen oder an kleinen Straßen abzubiegen, ungestüm wie ein Vogel am Himmel, ein ungestümer Flug bis zur letzten Station, und ich sah durchs Fenster die Hochhäuser, die Fabriken, das berühmte Institut für Flugzeugbau – die hässlichen Fortschritte unserer hässlichen Zivilisation. Auch hier wohnten Menschen. Bevor die Straßenbahn eine Runde drehte, um genauso selbstvergessen in die andere Richtung zu fliegen, in der Ausweglosigkeit der fest verlegten Schienen, machte sie eine kurze Pause, und wir stiegen aus. Wer wir? An eine Begleitung erinnere ich mich nicht. Es gab nur mich und meinen Großvater, der in seinem Garten auf mich wartete.
     
    So ging ich zu ihm durch die große Datschensiedlung mit all diesen Menschen, die ihren alten Sachen ein zweites Leben schenkten, schäbige Hosen, Sommerröcke, deren Verschlüsse ständig aufgingen, abgenutzte Schuhe, oft trugen die Frauen Unterwäsche aus Leinen, macht nichts, wenn wir gesehen werden, wir sind auf unserem privaten Grundstück. Viele von ihnen standen seit Ewigkeiten am
Zaun und schälten Sonnenblumenkerne und drehten sich wie die Sonnenblumen in Richtung Sonne, und wenn die Sonne unterging, waren sie wie Nachtschattengewächse, wie die bösen Tomaten aus dem Kinderbuch. Es war eine entspannte, vegetative Gesellschaft ohne Scham, ich hatte ein bisschen Angst vor ihnen. Ich kannte ihre Gesetze nicht, ich wollte eine von ihnen sein, um mich auch in die Sonnenrichtung drehen zu können. Ohne zu blinzeln, schauten sie uns an, wir sahen viel zu städtisch aus, Anti-Datscha und fremd. Sie wussten etwas über das Leben, was wir nicht wussten. Wir konnten uns nie anpassen, uns keine Wurzeln wachsen lassen, wir konnten uns nicht einmal langsamer bewegen, wir stürmten voran wie Vögel. Am Ende der Siedlung, am Feldrain beim Wald, lag Großvaters Garten.
    Dort blühten Dutzende Sorten von Rosen, gelbe, weiße, rote, rosarote, fast schwarze, kleine orangerote, violette, braune. Nicht einmal in den schönsten Blumenbeeten zu Ehren der sowjetischen Errungenschaften habe ich solche Rosen gesehen. Unsere botanischen Gärten waren voll mit Rosen aus aller Welt, versehen mit Schildchen, die die komischsten Namen trugen: Sie erzählten von fernen Ländern, verlorenen Welten und von unseren ungeträumten Sehnsüchten, und auch diese reiften heran. Im großen Garten des Landes wurde jahrzehntelang versucht, möglichst vieles zu pfropfen, besonders Apfelsorten, gleichzeitig wurde zielstrebig an der Reduzierung der Menschentypen gearbeitet.
    Großvater hatte Apfelbäume von der Sorte Ruhm für die Sieger , ein wahrer, saftiger Genuss des Sieges über den Faschismus. Er war aber kein Sieger. Dafür wuchs in der Mit
te seines Gartens ein Paradiesapfelbaum, der aussah wie ein Edelzwerg unter Giganten.
     
    Ich hatte bereits ein Paradies, meinen Garten Eden im Zentrum der Großstadt: Am Ende der Straße, in der ich geboren wurde und in der meine Großmutter vor dem Krieg gelebt hatte, stand ein Palast, das ehemalige Institut für adlige Töchter, das später in Oktoberpalast umbenannt wurde und in dessen linkem Flügel ich jahrelang tanzte, in dessen rechtem Flügel ich jahrelang sang. Dort, vor dem Palast, wuchsen Teerosen in allen möglichen Farben, es gab Hunderte davon. Was allen gehört, wussten wir, gehört niemandem, und so nahm ich sie in Schutz. Auch den Hügel, auf dem der Palast stand, eignete ich mir von dem großen

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