Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
Desaster daraus machen. Und da ihr das klar war, hatte sie nichts vorbereitet. Sie wollte das Treffen einfach passieren lassen. Und es passierte. Und sie hielt es aus, brachte es hinter sich und kam am späten Nachmittag nach Hause in unsere Wohnung.
Ihre Haut war nicht blass, nicht weiß, nicht rosa, sie war wächsern – durchsichtig. Als hätten sich alle Äderchen und Hautschichten aufgelöst, und zurück blieb der blanke Schädel. Ebenso war ihre Mimik – passend zur Haut: starr, ausdruckslos, versteinert.
Jenny kam rein, und ich brühte erst einmal frischen Kaffee auf. Sie setzte sich auf das Sofa und ließ ihren Kopf nach hinten auf die Rückenlehne fallen. So saß sie dort fast eine Stunde lang. Kein Scherz! Sie saß nur da und starrte die Decke an. Man hätte sie für tot halten können.
Ich war leise, blieb auf Abstand, setzte mich in den Sessel am Fenster und trank beharrlich Kaffee – eine Tasse, zwei Tassen, eine dritte. Dann setzte ich mich neben sie. Nur wartend, bis sie aus ihrer Apathie erwachen würde.
Was mochte in der Klinik vorgefallen sein? Derzeit wusste ich noch nicht, dass sie auf Christopher gestoßen war. Und doch konnte ich es ahnen, als ich sie ansah. Irgendwie hatte sie das gleiche Gesicht wie damals Dr. Pilburg, als er mit Chris aus dem Camp zurückgekommen war. Drei Tage später war Pilburg tot gewesen. Hatte sich vor den Zug geschmissen.
Ich saß neben Jenny und begann, mir Sorgen zu machen. Konnte man bei diesem Verhalten noch von einem Schrecken sprechen? Es kam eher einem SchockZustand gleich. Was war in der Klinik passiert?
Ich nahm vorsichtig ihre Hand. Sie ließ es geschehen. Kalt und kraftlos lag die Hand in meiner.
Nachdem ich der Meinung war, sie lang genug in diesem Zustand ertragen zu haben, fragte ich vorsichtig: „Was ist passiert?“
Ich sah, wie ihre Augenlider zitterten. Sie wendete langsam ihr Gesicht zu mir. Ich fragte: „Hast du Chris gesehen?“
Sie nickte zaghaft.
„Hast du mit ihm gesprochen?“, fragte ich vorsichtig weiter. Wieder nickte sie.
Und?, dachte ich. Dann dachte ich: Wir haben recht gehabt, die Wandlung ist vollzogen. Chris ist nicht mehr der, den wir zuletzt gesehen hatten. Er ist mutiert. Irgendwie. So dass wir, die ihn länger nicht gesehen hatten, es genau bemerken würden. Eine Mutation, nicht nur innerlich, auch äußerlich. Wenige Monate, die aus einem Kind keinen Jugendlichen, sondern direkt einen Mann gemacht haben.
Ich suchte in Jennys Blick Bestätigung für meine These. Und ich fragte mich, ob sie Chris das Buch hatte geben können. Doch Jenny schwieg.
Ganz leise sagte ich: „Es ist vollzogen.“
Sie brauchte nicht zu nicken. Sie brauchte nur nicht zu widersprechen. Das reichte aus.
All unsere neu erlangte Energie, all unsere Ziele, unser Plan waren unnütz geworden. Dabei hatten wir doch genau das alles vorhergesehen. Theorie und Praxis bleiben eben doch ein himmelweiter Unterschied. Chris würde sofort unsere Absicht mit dem Buch durchschauen und wahrscheinlich hämisch grinsen. Was hatten wir uns nur bei dieser blöden Idee gedacht? Wie sehr würde er uns jetzt für den Plan hassen, ihn auf diese Art beeinflussen zu wollen. Mein Gott, es würde ihn schlichtweg zu neuen Ideen inspirieren.
Seit diesem Tag war uns klar: Wir stehen auf seiner Liste, genauso wie seine Mutter, Brad Livingston und Dr. Pilburg.
Jenny erfuhr, dass sie wieder die Klasse übernehmen sollte, und Chris wurde erneut auf Dr. Hamonds und meine Station überstellt. Er hatte es geschafft! Geschafft, die direkte Nähe für seinen nächsten Vernichtungsakt zu schaffen.
Jenny und ich hatten die Wahl: Kündigung oder Krieg? WIR HATTEN DIE WAHL! Und wir wählten den falschen Weg. Wir ließen uns auf einen Krieg mit ihm ein!
*
Was war passiert an diesem Nachmittag bei dem Gespräch zwischen Jenny und Chris?
Chris hatte sich zu einem stattlichen jungen Mann gemausert, dem Stimmbruch nahe und ein vollendeter Gentleman.
Dr. Brisco hatte ein breites Grinsen in seinem Gesicht, als Jenny an seine Bürotür klopfte und er öffnete. Im Hintergrund konnte sie Chris erkennen, gemütlich platziert in einer Sitzecke, ein Glas Limo vor sich.
Als Jenny das Büro betrat, stand er wohlerzogen auf, kam auf sie zu und gab ihr höflich die Hand. Er schien gewachsen zu sein, stellte Jenny fest, oder täuschte nur die äußere Erscheinung? Seine Stimme hatte einen minimalen dunklen Unterton tief aus der Brust, so dass man schon seine spätere Stimme erkennen konnte. Chris sah einfach
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