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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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Lebenserfahrung hat, erkennt schnell, wenn sich zwei Blicke mit großer Sympathie begegnen. Das war mein nächster Schreck an diesem Morgen, denn die beiden begegneten sich mit großer Vertrautheit. Es war wie ein Funke, den ich aufblitzen sah. Hamond stand neben mir. War ich der Einzige, der diese Zusammenhänge wahrnahm?
Dr. Hamond schien erfreut über diese höfliche und vertraute Begrüßung. Ich war erschüttert, schon wieder am Rande eines nervlichen Desasters. Doch ich hielt die Stellung und grinste Hamond an. Er war der Boss, er trug die Verantwortung, ging auf Chris zu, begrüßte ihn im Namen aller Mitarbeiter und gratulierte ihm zum Geburtstag. Dann sahen alle auf mich, der noch an der Glastür zum Stationsgang stand. Ich kam näher und sah genau das, was Jenny mir Wochen zuvor gesagt hatte: Christopher Gelton war mutiert. Was für ein strammer Bursche! An Sarahs Stelle hätte ich auch ein Funkeln in den Augen gehabt. Er sah nicht wie dreizehn aus, eher wie siebzehn. Ein Teenie mit scharf markanten Gesichtszügen. Das Kind in ihm hatte sich verabschiedet. Vor mir stand fast auf Augenhöhe ein herangewachsener Jugendlicher, der mir auf Anhieb sympathisch erschien. Er schien das Erbgut seines Großvaters in sich zu tragen, was die Körpergröße betraf. Aus alten Aufzeichnungen wusste ich, dass Dane Geltons Vater eine große Erscheinung gewesen sein musste.
Chris sah wie ein Praktikant aus, mit dem Ziel, hier später als Arzt arbeiten zu wollen. Auch wir beide gaben uns die Hand, tauschen gegenseitig unsere Namen respektvoll aus und begannen wieder eine gemeinsame Luft zu atmen. Nur, diesmal hatte ich nicht meinen Sohn vor mir, sondern einen gleichwertigen Herausforderer. Das regelte Chris schon mit seinem ersten Blick zu mir. Wissen Sie, wie er das gemacht hat? Na, er grinste. Grinsen heißt in seiner Sprache ich komme.
Dr. Hamond holte den Kuchen und die Geschenke aus dem Stationsbüro. Ich dachte an das Buch, das ich für Chris in meiner Arbeitstasche hatte. Nicht jetzt , kam es mir in den Sinn. Das mache ich alleine mit dir .
Hamond kam und übergab Chris den Kuchen und die Geschenke. Er nahm beides recht kühl entgegen, bemerkte „lecker“ zu dem Kuchen und „Malsachen?“ zu dem Geschenk. Hamond sah mich erbost an. Chris hatte seine Strategie geändert. Hatte er damit gerechnet, dass ich ihn aus der Reserve locken wollte? Dass ich ihn Hamond auf dem silbernen Tablett servieren wollte?
„Die Zeiten sind wohl vorbei“, hörte ich Chris bemerken. „Aber trotzdem, vielen Dank. Ich werde sehen, ob ich jemanden ausfindig machen kann, der dies zu nutzen weiß.“
Hört ich richtig? Welcher Sprachgebrauch kam da aus Chris‘ Mund? Jenny hatte in allem recht gehabt. Chris hatte einen völlig neuen Charakter angenommen. Kein Teenagerjargon mehr, nein, es waren Worte vom Feinsten. Kein Wunder, dass Dr. Brisco dachte, er selbst wäre ein Genie und hätte aus Chris einen neuen Menschen gemacht. Dabei war es umgedreht gewesen. Es war Chris‘ ganz eigene Entscheidung gewesen, diese Rolle jetzt anzunehmen. Psychopathen sind verflucht gute Schauspieler!
Dr. Hamond musste weiter, er hatte eine Therapiestunde mit David, einem 12-jährigen Patienten, und Sarah musste zurück ins Büro.
Da standen wir beide plötzlich wieder – alleine – auf der gleichen Station. Ich geleitete Chris in sein neues Zimmer. Es war wieder hellblau, und kein Bild hing an der Wand. Er setzte sich auf sein neues Bett und starrte lange Zeit auf den Boden. Ich setzte mich auf einen Stuhl am Schreibtisch und starrte Chris an. Eine merkwürdige Situation. Eigentlich mussten wir uns als alte Freunde überwältigt in die Arme fallen, aber Dr. Brisco hatte uns beiden jeden Körperkontakt außer Händegeben verboten. Es war ratsam, das Verbot anzunehmen.
Plötzlich griff Chris in seine Tasche, in die er seine Utensilien gepackt hatte, und holte ein schwarzes Buch heraus. DAS BUCH! Er hielt es mir mit den Worten entgegen: „Das ist für Sie Dr. Koman.“
Ich starrte das Buch einige Sekunden an, ehe ich es entgegennahm. „Danke“, sagte ich überrascht. „Ich habe auch eins für dich. Ein neues.“
„Ich weiß“, sagte Chris.
Damit gab er mir das Zeichen für den Spielbeginn. Er hatte meine Strategie durchschaut, noch ehe ich ein erstes Gespräch mit ihm führen konnte.
„Meins ist aber leer“, sagte ich.
„Meins nicht.“
„Sollen wir tauschen?“, fragte ich.
„Sicher, warum nicht.“ Da war er wieder, der alte Chris.
Ich stand auf,

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