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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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anderen vernichten kann.
Wir vertauschten die Rollen. Wir stiegen in die kranken Charaktere hinein, um Chris zu erreichen. Und er in die gesunde, um uns zu erreichen. Da ist es doch klar, dass keiner von beiden lange darin existieren kann. Aber wir wollten herausfinden, wie lange der andere durchhält. Und vor allen Dingen: Wer würde gewinnen?
    *
    Wir eröffneten den Krieg am 05. Mai 2010.
Jenny hatte die Klasse schon seit einigen Wochen wieder überstellt bekommen, mit der Auflage, einmal in der Woche ihren Unterricht mit Mrs. Twielang zu reflektieren, ihre Kritik anzuhören und ihre Tipps umzusetzen.
Ich bekam nun als stellvertretender Stationsarzt eine Halbtagsstelle, weil meine Krankenversicherung vorerst nicht mehr Stunden zuließ. Mein gesundheitliches Gutachten stand nicht zum besten, und ich musste an Fortbildungen und Therapien teilnehmen, als hätte ich meine Ausbildung in der Lotterie gewonnen! Das war grotesk und demütigend für mich. Aber es war notwendig, um diese Studie entstehen zu lassen.
Dann kam der ersehnte Tag. Man war gerade dabei, das Zimmer für Chris herzurichten. Dr. Brisco hatte mich gebeten, Chris nun mit Christopher anzureden, um alte, festgefahrene Gewohnheiten und Erinnerungen zu lösen. Chris sollte diesbezüglich bei Dr. Koman bleiben, was er mit „selbstverständlich“ bekundete.
Dr. Hamond war ja der leitende Stationsarzt, 18 Jahre älter als ich, pragmatisch, wortkarg, aber gradlinig. Er machte seinen Job. Chris würde sich wundern, Dr. Hamond kam, brachte seine Stunden makellos hinter sich und ging. Keine privaten Äußerungen, keine zusätzlichen Sorgen, kein privates Interesse. Die Art von Psychiater, die so eine Klinik braucht, um keine spektakulären Dinge passieren zu lassen. Er sollte also Chris‘ neuer Mentor sein.
Unsere erste Begegnung vor einigen Wochen war sehr korrekt verlaufen. Von einem festen Händedruck geprägt und höflich im Umgang. Genau das, was ich brauchte. Er gab mir nicht den geringsten Anlass, über die normale Arbeit hinaus über die Jungs nachzudenken. Er sagte nur: „Morgen wird uns Christopher Gelton überstellt. Es ist sein 13. Geburtstag. Wir müssen uns was einfallen lassen. Hätten Sie eine Idee?“
Ich fiel aus allen Wolken! Klar!, dachte ich, wir schenken ihm ein Buch. Da schreibt er gerne rein und bringt Sie damit zur Strecke.
Ich testete den neuen Arzt aus und sagte: „Er mag Kuchen. Und Blätter und Malfarbe. Er ist sehr kreativ.“ Dabei dachte ich, wenn Hamond Chris‘ Akte gelesen hätte, wüsste er sofort, dass Blätter und Malfarbe ein No-Go für Chris waren. Doch das hatte er wohl nicht, denn er sagte: „Eine gute Idee. Ich werde einen Einkauf bis morgen veranlassen. Sarah wird das erledigen.“
Sarah? Wer war Sarah?
„Die neue Pflegerin. Annie ist weg.“
Stimmt, ich hatte Annie seit letzter Woche nicht gesehen. Unser Herzchen der Station. Ich fragte: „Warum?“
„Sie sagt, sie hat eine bessere Stelle gefunden.“
Ich nickte, wie auch immer sie das gemeint hatte. Ich konnte sie nicht fragen, ob es etwas mit Chris zu tun hatte. Dass er wieder auf diese Station zurückkommen sollte.
Doch der Name Sarah machte mir Angst. Hieß nicht auch Chris‘ Mutter Sarah? Verdammt! Ich war wieder mittendrin!
Nun, da Dr. Hamond Boss über alle Dinge auf dieser Station war, ließ ich den Einkauf von Malutensilien geschehen, zu neugierig, was passieren würde. Ich kaufte ein Blank-Paper-Buch  als Geschenk für Chris.
    Morgens um 8:30 Uhr kam Chris mit einer Tasche voller Kleidung in unseren Flur und setzte sich vor das Stationsbüro, wo nun Sarah waltete. Sittsam, ja fast steif und absolut bewegungslos wartete er auf Sarahs Aufmerksamkeit. In der linken Hand hielt er den Überstellungsbrief auf diese Station wie einen Fremdkörper.
Schon alleine, als ich „hallo, ich bin Sarah“, hörte, lief es mir wie ein Schauer über den Rücken. Genauso hatte sich einst Chris‘ Mutter seinem Vater Dane Gelton in einer Klinik für Verhaltensforschung vorgestellt. Die Parallelen waren beängstigend.
Sarah, unsere Stationspflegerin, war 22 Jahre alt, gerade mal neun Jahre älter als Chris. Bei dem Gedanken lief mir wieder ein Schauer über den Rücken.
Chris erhob sich gentlemanlike. Entzücken war seinem Blick zu entnehmen. Er hielt ihr zur Begrüßung anständig die Hand entgegen und sagte: „Angenehm, Christopher Gelton.“
Aha, er hatte die Lektion mit seinem Namen wohl auch lernen müssen und zeigte keinerlei Verfehlungen.
Wer schon ein bisschen

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