Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
blendend aus!
Damit war Jenny klar, dass sie nicht mehr den Jungen vor sich hatte, den sie von Monaten in dieser Klinik hinterlassen hatte. Seine dunklen Augen funkelten sie an, sein breites Grinsen mit unzähligen strahlend weißen Zähnen blendeten sie.
„Mrs. Keller“, sagte Chris höflich, mit einer kleinen nickenden Geste, „es ist schön, Sie wieder zu sehen.“
Damit hatte Jenny nicht gerechnet. Und was hieß hier wieder zu sehen? Sie hatte ihn fast täglich im Unterricht von Mrs. Twielang gesehen. Aber da hatte er völlig anders ausgesehen. Eben wie ein 12 Jähriger. Sie hatte jetzt ebenso mit einem Jungen gerechnet, der verkrochen in einer Ecke, verbittert, wütend und hassend sitzen würde. So wie das zweite Gesicht von Gollum aus Herr der Ringe . Doch vor ihr stand plötzlich ein junger Mann, die Höflichkeit in Person. Als sie noch hörte: „Es tut mir leid, was ich Ihnen angetan habe. Das war sehr gemein von mir. Ich möchte es gerne wieder gutmachen und entschuldige mich in höchster Form“, war es mit ihrem Durchhaltevermögen vorbei. Ganz zu schweigen mit den Fragen, die sie nicht vorbereitet, aber zu gerne an Chris gerichtet hätte.
Welchen Sprachgebrauch hatte sich dieser Junge inzwischen angeeignet? Wo war seine kindliche Wortwahl, seine fast autistische Ausdrucksweise, geblieben?
Dr. Brisco strahlte. Er betrachtete dieses Zusammentreffen als das erfolgreiche Ergebnis seiner Therapie. Und damit stand fest: Wir alle hatten versagt.
Als Chris Jenny noch sagte, er würde ihr und mir eine neue Chance geben, brach sie vollkommen zusammen. Chris hatte sie alle im Griff. Selbst die Klinikleitung.
Als Jenny wieder etwas gefasster wirkte, erzählte Dr. Brisco von dem guten Verhältnis zwischen Mrs. Twieland und Chris. Jenny solle dringend ein Gespräch zu ihr suchen. Mrs. Twieland könnte ihr vielleicht hilfreiche Tipps und Anregungen geben. Außerdem sei es nicht die Aufgabe einer Kunstlehrerin, sich um Analyse und Diagnose ihrer Schüler, sondern nur um künstlerische Förderung von Begabungen zu kümmern.
Chris grinste die ganze Zeit, ganze 30 Minuten.
Brisco erzählte von Chris‘ guter Führung, seinem exzellenten Verhalten auf der Station und seinen hervorragend bestandenen Tests in der Psychoanalyse. Seine alte Diagnose (von mir verfasst) wurde kurzum über den Haufen geworfen.
Wollte Dr. Brisco uns damit sagen, wir hätten den Jungen erst krank gemacht? Wir hätten ihn in den Wahnsinn getrieben und Dinge gesehen, ihm angelastet, die aus der Luft gegriffen waren?
Dr. Brisco verordnete uns beiden Fortbildungen und machte uns die Auflagen, Chris nicht mehr weiter besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Er wäre ein zutiefst verwirrter Junge gewesen, der nun klare Regeln gelernt hätte. Die würden ihm helfen, besser klarzukommen. Er müsse sie jedoch einige Zeit auf der Station üben, um dann den ersten Versuch in Freiheit zu starten, was hieß, er würde wieder in ein normales Kinderheim überstellt werden.
Während Dr. Brisco Jenny das alles mitteilte, grinste Chris.
Sein Plan war aufgegangen und Jenny gänzlich sprachlos.
Wie schon erwähnt, wir hatten die Chance zu kündigen oder zu kämpfen. Doch wir kündigten nicht. Stattdessen richteten wir uns auf eine neue Strategie ein. Wir hatten das Buch präpariert, und Jenny hatte es Chris nach dem Gespräch gegeben. Wir waren uns einig, wir würden unseren eigenen Krieg gegen Chris führen, gänzlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Ich schrieb die Studie, die mein Vater mir empfohlen hatte, und ich entschied, sie bis zum bitteren Ende zu schreiben. Und dann, wenn ich sie geschrieben hätte, würde ich sie veröffentlichen – vom ersten bis zum letzten Tag mit meinem Leben mit Chris.
Als Jenny an diesem Abend nach Hause gekommen war, war eigentlich nichts Unerwartetes geschehen. Unsere Erwartung hatte sich bestätigt. Und genau das war es, das uns am meisten Angst machte. Wir hatten einen heranwachsenen Psychopathen vor uns, den niemand aufhalten würde. Man muss wissen: Bevor es zur Tat kommt, hat es eine lange Geschichte zuvor!
Sicher, wir hatten die Möglichkeit und die Chance, uns der Verantwortung komplett zu entziehen. Was hätten wir ein schönes Leben haben können. Doch stattdessen entschieden wir uns für den Dienst an der Menschheit, egal, welche Opfer man uns abfordern würde. Ein Krieg bleibt immer ein Krieg und verläuft immer nach dem gleichen Muster: Zwei Menschen stehen sich gegenüber, und jeder überlegt, wie er den
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