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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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derzeit 32 Jungen und 16 Mädchen. Eine große Gefahr während der Schulzeit für die Mädchen. Das Lehrpersonal war in den Pausen sehr gefordert. Man bedenke, wir hatten es hier nicht mit schwererziehbaren Kindern, sondern mit psychisch kranken Kindern zu tun.
Wegen einem medizinischen Schutzgesetz waren uns in vielerlei Hinsicht die Hände gebunden. Gerade was den Einsatz von sexualhemmenden Medikamenten bei Minderjährigen betrifft. 
Wir hatten einige Doppel- und einige Einzelzimmer auf der Station. Die Doppelzimmer belegten wir nur mit Jungen, bei denen wir uns relativ sicher waren, keine sexuellen Übergriffe zu erwarten. Es war nichts in den Akten diesbezüglich verzeichnet.
Bei Chris hatten wir eindeutige Hinweise auf ein frühkindliches sexuelles Interesse. Wenn seine Erfahrungen auch nicht immer von ihm gewollt waren, so war er doch von einer unersättlichen sexuellen Neugier. Eine Neugier, die schon durch mehrere Generationen in seiner Familie zu verzeichnen war und die ich als sehr gefährlich einstufte. Aber meinem Wunsch, Chris mit testosteronsenkenden Mitteln versorgen zu wollen, wurde nicht entsprochen. Ich wies meinen Chef auf die Gefahr hin, dass Chris hauptsächlich durch die Berührung von Jungen erregt wurde, was auf eine homo,- bzw. bisexuelle Neigung hinweisen könnte. Wie bei seinem Vater. Aber auch das bescherte ihm vorerst kein Medikament.
Chris bekam ein Einzelzimmer.
    Was konnte ich Chris hier anbieten? Mir stellte sich ständig die Gegenfrage: Was würde passieren, wenn ich ihm nichts anbiete? Was würde er dann selber erfinden? Wieder einen neuen Größenwahn? Wie oft sollte sich das Spiel noch wiederholen? Mein Chef sagte, wir sollten ihn erst einmal in Ruhe lassen.
Das tat ich. Und dadurch passierte folgendes:
Nach nur zwei Tagen hatte Chris seine ganzen Zimmerwände bearbeitet. Er hatte mit einem Stück Holz, was er aus seinem Bettgestell geknibbelt hatte, in die Wände Striche geritzt.
Ich fragte ihn, warum er das mache. Und Chris antwortete in seiner unverwechselbar liebenswerten Art: „Ich habe keine Uhr. Damit ich weiß, wann ich zum Essen gehen muss, muss ich wissen, wie spät es ist. Und damit ich weiß, wie spät es ist, ritze ich hier jede Sekunde ein, die vergeht.“
Ich starrte ihn an und fragte ihn, wie die anderen das Problem lösten. Da antwortete er: „Die schauen zwischendurch immer auf die Uhr im Flur. Das ist mir zu lästig. Und außerdem habe ich hier sowieso nichts zu tun.“  „Und wie machst du das, wenn du isst und schläfst?“
Er antwortete mir: „Beim Essen zähle ich weiter, so im Kopf und arbeite die Striche dann nach.“ Dabei hob er den Zeigefinger seiner rechten Hand und vervollständigte: „... und zähle dabei weiter.“
„Und nachts? Wie machst du das nachts?“, fragte ich.
„Dann schlafe ich nicht.“
Ich sah ihn gequält an. „Du schläfst seit zwei Tagen nicht?“
„Nein.“
„Was kann man dagegen tun?“, fragte ich.
Chris sagte nur: „Ich brauche eine Uhr.“
Ich besorgte sofort eine Uhr aus dem Personalzimmer.
Damit war das Problem mit den Strichen aus der Welt. Chris schrieb unter den letzten Strich: 48 Stunden, 23 Minuten, 13 Sekunden. Das gibt’s doch nicht!, dachte ich. Waren etwa autistische Züge zu erkennen?
Ich war fassungslos, und mein Chef verstand endlich, was ich die ganze Zeit meinte. Zwei Tage später schenkte ich Chris meine Armbanduhr und brachte die andere Uhr wieder ins Personalzimmer zurück. Damit war das Problem mit der Zeit aus der Welt geschafft und Chris zeigte keinerlei Auffälligkeiten mehr in diese Richtung.

Ich trug an Chris die Aufgabe heran, seine Lebensgeschichte einmal für mich aufzuschreiben. Sie würde mich brennend interessieren. Natürlich auch, damit ich sie auswerten konnte und mein Chef diesen Knaben in seiner ganzen Tragweite verstand. Das sagte ich Chris natürlich nicht.
Damit hatte ich eine Aufgabe für ihn, die er ohne Größenwahn bewältigen konnte. Ich musste nur darauf achten, dass er jeden Abend um acht Uhr schlafen ging.
Wir erstellten einen Regelplan und hängten ihn in seinem Zimmer auf.
Der sah so aus:
    7:00  Uhr aufstehen, Bett aufschlagen, duschen, anziehen
7:30  Uhr Bett machen, Zimmer richten, zum Frühstück gehen
8:00  Frühstück im Gemeinschaftsraum
8:30  Schulsachen überprüfen, in Gebäude D1 zur Schule gehen
9:00  Schulbeginn
14:00 Mittagessen in der Mensa, Restzeit für Schularbeiten nutzen
15:00 Schulbeginn
17:00 zurück auf die Station, bis 18 Uhr

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