Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
Wirklichkeit. Der Betroffene gestaltet sich seine eigene Welt, um wieder eine Form, Struktur und Ordnung herzustellen, mit der er umgehen kann.
Er beginnt unter formalen Denkstörungen zu leiden. Bei der sogenannten Perseveration kommt der Betroffene immer wieder auf die gleichen Gedanken, Worte und Angaben zurück, die er zuvor gebraucht hat. Selbst wenn sich alles als irrational erwiesen hat. So glaubte Chris ständig, dass ein Psychologe ein Kunstkenner wäre, weil das hervorragend in sein Konzept passte. Das hat seine Welt, in der er lebte, abgerundet und ließ ihn eine gute Position einnehmen. Er schuf sich damit Selbstbewusstsein und entwickelte eine Resistenz gegen Gelächter und Abwertung. Das hatte zur Folge, dass er auf Gelächter nicht rational reagierte, sondern den Karren noch fester in den Sand fuhr. Zum Schluss kam für ihn ein Desaster heraus, was er wiederum zu einem, aus seiner Sicht, erfolgreichen Ergebnis formte. So blieb seine Welt immer in einer positiven Sicht, in einem Kreislauf, der für ihn funktionierte.
Der Begriff Psychologe muss ihm längst durch seine Schulbildung bekannt gewesen sein, genau wie viele, viele andere Begriffe, denen er ständig neue Bedeutungen beimisst.
Chris' inhaltliche Denkstörungen führten zu krankhaften falschen Vorstellungen, die von der Realität abwichen.
Diese Vorstellungen sind so wirklich für ihn geworden, dass er unbeirrt daran festhielt und sie nicht anhand der Realität überprüfte. Es setzte ein Größenwahn ein.
Das ist ein Gefühl, was der Betroffene dann als normal empfindet. Es beschreibt einen Zustand, in dem nichts zu schwer erscheint. Er kann alles meistern. In diesem Zustand ist der Betroffene völlig unantastbar.
Der Größenwahn wird durch tatsächliche Höchstleistungen hervorgerufen.
Chris entwickelte einen künstlerischen Größenwahn und sah sich als der größte Künstler aller Zeiten. Er wartete ständig darauf, entdeckt zu werden. Und seine Leistungen sind wirklich beeindruckend gewesen.
Meistens kommt es zwischen dem 18. und 35. Lebensjahr zum ersten Ausbruch der Krankheit. Bei Chris verzeichne ich eine Ausnahme. Wo wir immer glaubten, er wäre rückständig im Denken, Verstehen und Fühlen, war er der Sache weit voraus – in seiner Welt. Dabei überging er ständig wesentliche Entwicklungsstufen in seiner Kindheit. Sein Elternhaus bot ihm kein soziales und kindgerechtes Umfeld. Er musste sich schon im frühen Kindesalter mit Sexualität beschäftigen, anstatt zum Beispiel Schwimmen zu lernen oder mit anderen Kindern zu spielen.
Chris' Urlaub bei einer Prostituierten auf einem Wohnwagenplatz zeigte deutlich, wie verhungert, bzw. verwahrlost er als Kind war. Jemand nahm sich Zeit und spielte mit ihm. Man gab ihm den ersten Kassettenrekorder, und er hörte bewusst die erste Klaviermusik, die ihn so unendlich entspannte. Er durfte Kind sein. Ein kurzer Ausflug in die Normalität, der leider so kurz war, dass er sich bei Chris nicht einprägen konnte. Kurz darauf war er wieder zu Hause und damit der Lieblosigkeit seiner Mutter, der Gewalt des Lebenspartners der Mutter, dem leiblichen und seelischen Verhungern und der unangemessenen Sexualität ausgeliefert. Seine alte Struktur hatte wieder Bestand.
Hier beginnt Chris' dritte Station in seinem Leben. Die erste halten wir als Elternhaus, die zweite als Heimaufenthalt und die dritte als Psychiatrie fest.
Chris war elf, als er in die Psychiatrie eingewiesen wurde.
In dieser Einrichtung arbeitete ich.
Chris sah das alles als Normalität an. Er wohnte jetzt eben hier bei mir, bei Bob. Ich war eine Art Vaterfigur für ihn geworden, der ich nicht nachkommen konnte. Er wohnte in einem Zuhause, was kein Zuhause war.
Wie sollte ich jetzt, nach allem was geschehen war, so tun, als seien wir Vater und Sohn? Welche Aufgabe hatte Gott mir an die Hand gegeben? Wie sollte ich mit diesem Knaben eine Begrenzung meines Aufgabenbereichs händeln?
Der Junge lebte mit dem Gedanken, dass ich jederzeit für ihn da sei. Wie sollte ich damit umgehen, ohne ihn von mir wegzustoßen, was ihm bislang ständig widerfuhr. Konnte ich diese verunglückte Seele überhaupt wegstoßen?
Ich suchte nach einer Unterredung mit meinem Chef, um mir Tipps zu holen. Er sagte, ich muss diesen Jungen ein Stück weit wegstoßen, sonst habe ich bald die halbe Station an meiner Hand. Würde ich kündigen, würde ich in der nächsten Klinik vor dem gleichen Problem stehen. Also muss ich alle Patienten von mir abgrenzen.
Vielleicht fehlte
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