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Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)

Titel: Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Schreiner
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mir noch eine Art Abgebrühtheit. Aber was sollte aus meinem Berufsethos werden, wenn ich genau diese erlangt hatte?
Ich muss zugeben, Chris war mir sehr ans Herz gewachsen. Vielleicht deswegen, weil er bisher so chancenlos war.
In der Unterredung mit meinem Chef, sagte mir dieser zum Schluss, dass ich selber einen Psychologen brauchte. Ha, ha!
    Ich hatte viele Nächte damit verbracht, darüber nachzudenken, was das Beste für Chris jetzt wäre. Und ich war zu dem Entschluss gekommen, ganz klare Regeln mit ihm zu besprechen.
Die wollte ich mit ihm aufschreiben und in seinem Zimmer aufhängen, damit er sie immer nachlesen und ich mich darauf beziehen konnte.
Dass Chris kein Leben in Freiheit oder in einer Familie beschert sein würde, ließ sich erahnen, auch wie eingeschränkt sein sozialer Bewegungsradius aussehen würde.
    Dann war da noch die Sache mit dem Malen. Eine sehr gefährliche Sache für Chris. Mit dieser Gabe lebte er seinen Größenwahn aus und brachte sich ständig in Schwierigkeiten. Ventil und Gefahr zugleich. Seine Idee, Blut sei eine Malfarbe, wird ewig in ihm verankert bleiben. Somit auch der Drang sich zu ritzen, bzw. sich zu verletzen. Konnten wir dem mit Medikamenten beikommen ohne ihm die Freude am Malen zu nehmen? Wohl kaum. Wir könnte versuchen, ihn fürs Lesen zu begeistern, aber das machte er überhaupt nicht gerne. Da er noch einige Jahre in die Schule musste, war es ihm in der Freizeit eine Qual. Er hörte lieber zu, wenn vorgelesen wurde. Der Unterrichtsstoff ging wie „Honig“ in ihn hinein, wenn eine Lehrperson vorlas oder vortrug. Das entsprach wieder seiner kreativen Gabe.
Eine gute Idee erschien mir, ihm das Klavierspielen beibringen zu lassen. Aber mein Chef sprach sich sofort gegen diese Idee aus, da es zu einem neuen Größenwahn führen und Chris die ganze Station in den Wahnsinn treiben würde. Ich fragte nach einem schallisolierten Raum, aber mein Chef meinte, wo kämen wir denn hin, wenn jeder noch ein weiteres Privatzimmer bekäme. Es würden sich vielleicht noch andere Klavier-Interessierte melden. Und dann?
In meiner Vorstellung sah ich Chris mit Begeisterung spielen lernen und hin und wieder ein Konzert auf der Station geben lassen. Man könnte die Reaktion der anderen Patienten doch erst einmal abwarten.
Ich bekam kein Klavier genehmigt.
Nun muss ich meinen Vorgesetzten aber auch in Schutz nehmen. Seine 30 Jahre Berufserfahrung sind ein großer Schatz in Sachen Neuversuche und Entscheidungen. Als Berufsanfänger, wie ich einer war, steht man immer mit einer Art Übermotivation im Spielfeld und meint, man müsse alle alten Strukturen unbedingt erneuern.
Heute bin ich meinem Chef sehr dankbar für sein hartes Durchgreifen. Er hatte schon weit vor mir die Lage mit Chris erkannt.
    Mein Ideen-Angebot für Chris verkleinerte sich von Tag zu Tag. Er erzählte mir vor vielen Monaten einmal, dass er gerne Muskeltraining gemacht hätte. Das war möglich, denn wir hatten einen Fitnessraum auf der Station. Mit Widerwille dachte ich sofort an einen neuen Größenwahn, wie Chris uns alle in Grund und Boden schlagen könnte. Aber er wirkte nicht wie ein Sportler auf mich. Seine Talente waren nur im kreativen Bereich zu finden.
Ich fragte ihn, was mit Schriftsteller sei. Wir würden eine Story erarbeiten, die er dann schreiben könnte, ohne Blut natürlich. Seine Antwort war: „Ich bin doch noch ein Kind.“
Diese Worte geisterten in der darauffolgenden Nacht in meinem Kopf herum. Ein Kind geht zur Schule und trifft sich nachmittags mit Freunden.
Tja, seine Schule befand sich hier auf dem Gelände, nur drei Stationen weiter. Dort unterrichtete gerade eine neue Lehrerin. Wir hatten derzeit 48 Schüler, von sechs bis sechszehn Jahren. Chris war in die siebte Klasse eingeteilt worden und mit weiteren elf Kindern dort untergebracht. Seine Unterrichtszeit belief sich von 9 bis 14 Uhr und von 15 bis 17 Uhr. Dazwischen gab es Essen in der Mensa.
Das Schulalltag war gut organisiert. Mark Twain Junior-High-School hieß die Schule. Na, das hört sich doch richtig gut an, sagte ich zu Chris, als ich ihm davon erzählte.
    Auf der Station waren alle Kinder und Jugendliche nach Geschlechtern getrennt untergebracht. In der Schule waren alle gemischt. Das hatte damit zu tun, dass wir als Ärzte und Pflegepersonal auf der Station nicht überall geschlechtsübergreifende Situationen kontrollieren, bzw. verhindern konnten. Also hieß es nach der Schulzeit: Jungen links, Mädchen rechts.
Wir hatten

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