Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
angeschlagen.
Chris war sofort begeistert, als er von dieser Reise hörte. Er rannte wie ein aufgeregter Pudel durch die Station und schrie immer wieder: „Urlaub! Urlaub!“ Dabei dachte er sicherlich an einem Wohnwagen auf einem schäbigen Müllplatz.
Ich holte Chris am Abend vor der Abreise in mein Büro und traf folgende Abmachung mit ihm: „Wenn du im Urlaub bist, dann schreibst du jeden Abend auf, was du erlebt hast. So, wie deine Lebensgeschichte. Ich will nämlich wissen, wie es gewesen ist.“
Dabei hob ich aufmerksam meinen Zeigefinger. Dann gab ich ihm ein schwarzes Buch mit Leerseiten und einen neuen Kuli. „Versprich mir, dass du nicht im Urlaub malst. Nur schreiben. Nicht malen. Ist das klar, alter Bursche?“
Chris schwor mit beiden Händen und war rot vor Aufregung. Er nahm ergriffen das Buch entgegen, küsste den Umschlag und drückte es an seine Brust. Als ich ihm den Kuli reichte sagte ich: „Der ist nur zum schreiben da. Nicht ritzen, nicht malen. Nicht ein Bild.“
„Nicht ein Bild. Nicht mit diesem Kuli, nicht in dieses Buch.“
Damit wusste ich schon, dass er einen anderen Stift und ein anderes Blatt finden würde, was meine Abmachung soeben zunichte machte.
Nachts lag ich in meinem Bett und überlegte, wie viele Stunden es dauern würde, bis er wieder hier wäre, alleine, ohne die anderen Jungen, die sich weiter im Park vergnügen durften.
Instinktiv begann ich noch in dieser Nacht mit dem Lesen seiner Lebensgeschichte. Der Text fesselte mich dermaßen, dass ich bis zum Morgen durchlas.
Ich war erschüttert und beschloss, direkt am selben Tag die Geschichte auszuwerten und die erste Diagnose zu formulieren. Meine Motivation war immens.
Die sank radikal, als mich gegen Abend Dr. Pilburg, mein Stationskollege und der begleitende Arzt der Jugendgruppe, anriefen und fragten: „Was gibst du dem Jungen abends, damit er aufhört.“
Ich antwortet: „Nichts, wieso?“
„Dann werde ich etwas nehmen“, hörte ich Pilburg noch flüstern, dann legte er auf.
Ich dachte, wow, schon einen Tag länger als erwartet.
Es war wunderbar ruhig auf der Station. Urlaub, dachte ich. Wie Urlaub. So hatte ich mir die Arbeit schon eher vorgestellt.
Ich lernte Jenny kennen. Jenny Keller. Sie war Chris' Lehrerin und wollte sich in den Ferien gerne einmal die Station anschauen, auf der ihre Schützlinge leben.
Jenny war neu in unserem Komplex. Ich hörte, dass sie Sonderschullehrerin mit einem Diplom für „Lehren in der Psychiatrie“ ist. Da ist es wichtig, den Lernstoff mit der psychischen Erkrankung des Kindes zu kombinieren. Jenny hatte es hier mit einigen Hochbegabten zu tun. Diese Kinder sind dermaßen aufnahmefähig, dass selbst Jenny schwer mitkam. Anderseits zeigen diese Kinder auch viele Defizite. Wir hatten viele sogenannte InselBegabte. Diese Kinder sind in ein oder zwei Bereichen überdurchschnittlich begabt, in den anderen Bereichen normal bis schwach begabt.
Da ist es fast unmöglich, in einer Klasse ein einheitliches Lernprogramm durchzuziehen. Jenny orientierte sich zum Teil an der Pestalozzi- und Waldorf-Technik. Zum Teil zog sie ein einheitliches Programm durch, zum Teil ein individuelles.
Man muss sich bei dieser Arbeit selbst die Option zur Unvollkommenheit lassen. Ungleichgewicht als Gleichgewicht. Frust als Erfolg.
Jenny hatte derzeit 11 Kinder in der Klasse 7 zu betreuen. Sie unterrichtete Sprache, Kunst und Biologie.
Als ich das hörte, dachte ich nur: Großer Gott! Kunst! Ich muss unbedingt mit ihr über Chris sprechen.
Wir lernten uns dann ganz ungezwungen auf der Station kennen, im Gemeinschaftsraum, in dem gegessen wurde. Viele Jungen waren im Camp, sodass der Raum leer war.
Ich hatte gerade Chris' Aufzeichnungen vor mir auf dem Tisch liegen und verschlang eine Pizza nebenbei.
Jenny kam mit einem Tablett voller Käsebrötchen auf mich zu und fragte: „Dr. Koman?“
Ich nickte. „Bob“, sagte ich. Sie nickte und sagte: „Jenny Keller. Jenny, bitte. Ich bin Chris' Lehrerin. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Ich nickte und sie dankte.
„Wird Zeit, dass wir uns kennenlernen“, sagte sie und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
Ich dachte gerade dasselbe. In dem Moment ging mein Handy. Ich sah aufs Display. Pilburg! Ich fragte Jenny, ob es okay wäre, kurz mit Dr. Pilburg zu reden.
„Sicher.“ Sie biss in das erste Brötchen.
„Dr. Pilburg“, sagte ich künstlich freundlich. „Was gibt's?“
„Fragen Sie lieber, was es nicht gibt.“
Ich gehorchte. „Was gibt's
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