Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
Schularbeiten erledigen
18:00 Abendbrot im Gemeinschaftsraum
18:30 Freizeit auf der Station, Lebensgeschichte schreiben
19:30 waschen gehen, zur Nacht ankleiden
19:45 Klaviermusik hören
20:00 Licht aus, schlafen, nicht mehr aufstehen, auch liegen bleiben, wenn kein Schlaf kommt.
Die letzte Regel war außerordentlich wichtig.
Das waren zunächst die Regeln für die Wochentage. Die Wochenenden wollte ich später mit ihm erarbeiten.
Mit diesem Plan hatte Chris zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Struktur bekommen. Er war inzwischen zwölf Jahre alt und akzeptierte seinen Tagesablauf sofort, zumal er ihn weitgehend mitbestimmt hatte.
Ich teilte ihm mit, dass ich genau so einen Plan hätte. Der würde sich nur in einem schwarzen Buch befinden. Daraufhin zeigte ich ihm meinen Terminplaner und sagte, dass jeder erfolgreiche Mann so einen Plan brauche. Da ich aber viel unterwegs sei und hier auf der Station kein Zimmer habe, brauche ich eben dieses Buch.
Daraufhin erklärte mir Chris, dass er auch viel unterwegs sei.
Am nächsten Tag brachte ich ihm den gleichen Terminplaner mit, wie ich ihn besaß und sagte ihm, er solle jeden Tag ordentlich eintragen und jeden erledigten Termin sorgfältig abhaken.
Chris setzte sich brav in sein Zimmer und schrieb unzählige Mal den Plan von der Wand in seinen Planer. Er achtete peinlich genau darauf, nur die Wochentage zu nutzen.
Nun hatte ich ein gutes Gefühl, mit dem Jungen einen sinnvollen Tagesablauf gestaltet zu haben, gegen den mein Chef auch nichts einzuwenden hatte.
Da Chris nur eine Stunde am Tag Zeit hatte, seine Lebensgeschichte zu schreiben, konnte ich mich getrost zurücklehnen und entspannen, mich mal von ihm abgrenzen.
Das dauerte genau drei Tage, da kam Chris freudestrahlend auf mich zu und schrie schon von weitem: „Ferien!!“ Es war der 31. Mai 2009. Vier Tage später legte er mir seine gesamte Lebensgeschichte auf den Tisch. Über 150 Seiten.
Wir konnte ich nur die Ferienzeit vergessen haben?
Ich brachte Chris jeden Tag in meine Gruppentherapiestunde mit, um wenigstens eine Stunde für ihn gesichert zu haben.
Der Junge bescherte mir Beklemmungen. Wo die anderen Jungen den ganzen Tag über im Garten oder Spielzimmer herumtollten, lief mir Chris wie ein Schoßhündchen auf der Station hinterher und wollte alles erklärt haben. Er hatte ein großes Nachholbedürfnis und fragte ständig warum. Wenn ich ihn zurückwies, weil ich in meinem Büro etwas zu erledigen hatte, bettelte er das Pflegepersonal ständig nach Farben an. Ich verbat rigoros, ihm Farben zu geben, was niemand verstand. Dann erklärte ich es, und dennoch setzte man sich darüber hinweg und beschaffte Chris Papier und Buntstifte. Da könnte doch nichts passieren. Das wäre keine Tinte und auch keine Ölfarbe für großflächiges Malen. Chris ritzte sich kurzerhand mit den Spitzen der Bleistifte die Arme auf und hatte wieder Blutfarbe. Seine Wunden entzündeten sich. Eine Pflegerin musste sich übergeben. Ich schwieg mich über diesen Vorfall erst mal aus, und dann schrie ich über die ganze Station: „Hat sonst noch einer eine Idee für Malutensilien?“
Ich dachte mit Wehleiden an den Terminplaner, das scharfe Papier und den Kuli, den ich ihm gereicht hatte. Doch zu meinem Erstaunen passierte damit nichts. Das waren Sachen, die er für eine bestimmte Aufgabe erhalten hatte. Es war eben nur das Wort Malen, was ihn zum Ritzen bewegte.
Tja, nun hatte er mir seine Lebensgeschichte ausgehändigt, und ich musste sie auswerten.
Das konnte dauern. Woher sollte ich diese Zeit bekommen? Da kam auch schon die rettende Idee. Der karikative Verband „HFK - Help For Kids“ bot dieses Jahr in den Ferien eine einwöchige Reise nach Utah in ein Feriencamp für alle interessierten Kinder der Psychiatrie an. Es ist ein besonderes Camp für diese Kinder, wie ein Freizeitpark aufgebaut, aber ringsherum mit hohen Mauern eingekesselt und natürlich mit den schönsten Motiven bemalt.
Ein spezielles Camp für Kinder aus der Psychiatrie. Einzige Bedingung: sechs erfahrene Pfleger und ein Arzt unserer Klinik mussten zur Aufsicht mitreisen.
Ich wedelte bei der Auswahl ablehnend mit beiden Händen vor mir herum und erklärte, ich müsse Texte von Chris diagnostisch auswerten. Aber ich sprach mich dafür aus, dass Chris mitführe, trotz aller Probleme, die ich innerlich befürchtete. Sollte er mir doch mal für wenige Tage aus den Füßen genommen werden. Ich war von der Aufmerksamkeit, die er einforderte, ziemlich
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