Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
ging Pilburg.
Chris grinste mich verlegen an. Seine weißen Zähne strahlten zwischen dem Schwarz, und er sah tatsächlich auf den ersten Blick wie ein Sklave aus.
Ich löste sofort die Fesseln. Ich wollte ihn nicht fragen, was passiert sei, sondern fragte: „Hast du alles aufgeschrieben?“
Chris nickte. „Ja, Sir.“
„Hast du das Buch dabei?“
„Nein, Sir. Es liegt noch im Bus in meinem Koffer, Sir.“
Was sollte immer dieses Sir?
Ich sagte zu ihm: „Geh ins Bad und wasch dein Gesicht.“
„Geht nicht, Sir.“ Dabei sah er zu Boden. Vollkommenheit einer Sklavenszene, dachte ich.
„Was geht nicht?“ Sklave, dachte ich.
„Die Farbe, Sir. Sie geht nicht ab.“
Ich holte tief Luft. Das war es also. Diesmal hatte er sein chemisches Genie herausgekehrt.
„Gut“, sagte ich, „dann geh jetzt in dein Zimmer und warte auf mich.“
Chris folgte brav meiner Anweisung.
Als ich kurze Zeit später sein Zimmer mit einem Sandwich und einem Glas Orangensaft betrat, hatte Chris bereits seinen Schlafanzug an und lag im Bett. Er sah bekümmert aus.
„Ich darf sicherlich keine Geigenmusik mehr hören, nicht wahr?“, fragte er mich in einem herzzerreißenden Ton.
„Nein“, sagte ich. „Das darfst du diesmal nicht. Weißt du, manchmal tun Menschen Dinge, die schlimme Folgen haben. Damit sie das nie wieder tun, werden sie bestraft. Dann merken sie sich das besser, dass sie das nie wieder tun dürfen.“
Chris nickte folgsam. Keine Geigenmusik.
„Alles, was ich mache, hat schlimme Folgen. Ich brauche ein neues Buch, um mir alles aufzuschreiben. Es gibt sicherlich viele Bestrafungen. Die werde ich mir nicht alle merken können. Ich muss ein System anlegen, um alles nachlesen zu können.“
Ich nickte. Keine schlechte Idee. Zumindest würde er sich mit Bestrafungen auseinandersetzen.
„Wie viele Bestrafungen gibt es auf der Welt?“, fragte Chris. Er sah mich mit schwarzem Gesicht an, als wolle er fragen: Wann werden sie dir ausgehen?
Wie konnte ich diesem Knaben nur klarmachen, wie viele Beispiele es auf der Welt geben mochte. Da kam mir eine neue Idee. Ich sollte ihm ein Buch geben, in dem er alle Dinge, die ihm irgendwie einfielen, aufschreiben konnte. Dann würde ich die Folgen mit ihm erarbeiten. Das würde vielleicht ein Grundverständnis für richtig und falsch prägen. Zudem wusste ich, dass Chris gerne Geschichten vorgelesen bekam. Ich sollte mich mit Märchen an ihn wenden. Darin gab es klare Aussagen über gut und böse, richtig und falsch.
An diesem Abend sagte ich ihm ganz klar: „Es ist falsch, Kinder mit Farbe anzumalen, die nicht abzuwaschen ist.“ Während ich diesen Satz aussprach wusste ich schon, dass Chris nur die Worte die nicht abzuwaschen ist herausfilterte. Der Knabe trieb mich in den Wahnsinn. Mussten gewisse Dinge im Leben nicht auch ohne Erklärung verständlich sein? Auch bei psychisch Erkrankten? Wie groß mochte die Freiheit dieser Menschen sein, sich dumm stellen zu dürfen?
Ich dachte plötzlich an viele kuriose Gesetzgebungen in unserem Land. Waren die genauso zustande gekommen? Eine kuriose Tat bekam ein kurioses Gesetz, damit diese kuriose Tat bestraft werden konnte. Was für ein Irrsinn!
Als ich Chris‘ Zimmer verließ, wollte ich direkt nach dem Buch schauen, in dem Chris die Geschehnisse seines Urlaubs festgehalten hatte. Da kam eine Durchsage durch den Lautsprecher der Station: „Dr. Koman bitte sofort auf Station 2 ins Konferenzzimmer.“
Damit wusste ich, dass der Abend mir viel Ärger bringen würde.
Als ich das Konferenzzimmer, betrat war die gesamte Belegschaft des Ausflugspersonals anwesend und sah mich anklagend an. Ich fühlte mich direkt aufgebracht. Die ganze Welt hatte sich gegen mich verschworen.
Ich erfuhr zunächst, dass Chris eine wasserfeste Farbe (ich vermutete Marke Edding) mit Brennnesselextrakt gemischt und den Kindern ins Gesicht gemalt habe, weil er für ein selbst erfundenes Spiel Mannschaften kennzeichnen wollte.
Das klang doch gar nicht so übel, bis auf die seltsame Farbmischung.
Sämtliche Kinder hatten Hautreaktionen und schmerzhaften Juckreiz.
Ich fragte mich, warum Chris nichts dergleichen hatte. Da erinnerte ich mich, dass er in seiner Lebensgeschichte von seiner empfindungslosen Haut geschrieben hatte. Dass er kaum etwas spüre. Deswegen auch das unbekümmerte Ritzen. Das ist sehr gefährlich. Sein vegetatives Nervensystem ist gestört. Mir fiel auf, dass er Kälte und Hitze in der Dusche nicht unterscheiden konnte.
Mein Chef wollte Chris'
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