Vielleicht gab es keine Schuld (German Edition)
warum Jenny die ganze Zeit wissen wollte, was Chris geschrieben hatte. Ich gab ihr gerade den Grund: „Chris hat geschrieben, er habe dem Personal je eine Portion Pillen von Henry gegeben. Aber Samuel, der Kioskbesitzer sagt, dass alle vergiftet wurden. Also muss diese Portion sehr groß gewesen sein.“
„Ich weiß“, sagte Jenny und sah mich an.
Sie wusste das? „Du weißt das?!“
Sie nickte. „Deswegen wollen doch alle die Aufzeichnungen lesen. Sie sind der existenzielle Beweis dafür, was Chris wahrnimmt und was wirklich passiert ist. Anhand dieser Aufzeichnungen können wir sein Wahrnehmungsverhältnis erkennen. Seine Lebensgeschichte hat keine Gegendarstellung. Jetzt haben wir eine.“
Ruhe.
Das brachte mein ganzes Bild von Chris wieder durcheinander. Hatte Jenny gerade gesagt, dass Chris' Lebensgeschichte vielleicht einer völlig verzehrten Wahrnehmung zugrunde lag? Nichts von dem, was dort stand, stimmte so? Ich muss allerdings gestehen, dass er die Situationen, die ich mit ihm erlebt habe, recht korrekt wiedergegeben hat. Von seiner Interpretation kann ich das nicht sagen. Aber viele Ereignisse mit seiner Mutter und Brad waren vielleicht völlig überzogen, weil sie nichts dagegen stellten? Seine Mutter hatte zum Schluss Selbstmord begangen, und Brad war wegen Kindesmisshandlung unter Alkohol im Gefängnis gelandet! Hatte Chris sie alle so weit getrieben? Was in Gottes Namen hatte er mit seiner Mutter und Brad wirklich angestellt?
Mir kam das Leben im Heim in den Sinn. Vieles hatte ich miterlebt, vieles aber nur von Chris erfahren. Waren sämtliche sexuelle Übergriffe von anderen auf ihn etwa völlig anders inszeniert?
Jenny holte mich aus meinen Gedanken. „Ich bin seine Kunstlehrerin. Ich beschäftige mich viel mit Wahrnehmung und kreativer Umsetzung.“
Ich holte das Buch aus der Tasche und schlug die Seite auf, auf der Chris den Vorgang mit der Pillenvergabe in die Colaflaschen beschrieb. Dort stand eindeutig, dass er eine Portion in jede Flasche gesteckt hatte.
Jenny sah mich an. „Das mag auch so stimmen. Wie du schon sagtest, Chris schreibt nicht, wie groß die Portion gewesen war.“
„Aber warum?“
„Weil er auf diese Art und Weise sein Verhalten entkriminalisiert.“
„Genau.“
„Seine beschriebene Handlung unterliegt also keiner direkten kriminellen Handlung. Chris hat beim ersten Mal bei Dr. Pilburg doch gesehen, dass er von einer Pille nur müde wurde. Das war ihm nicht genug. Sein Spiel, dass er vorbereitete, bekam damit schon in der Aufbauphase einen dramatischen Hintergrund.“
„Einen Hintergrund“, wiederholte ich, obwohl ich noch nicht wusste, worauf Jenny hinaus wollte.
„Ja, genau. Chris liebt Spektakel. Du hast doch selbst über seinen Größenwahn geschrieben. Du hast ihn sogar erlebt. Im Camp, das war nur ein neuer Größenwahn. Er hat dir wahrscheinlich alles Mögliche vorher versprochen. Dass er dies nicht tut und das nicht tut. Er hat auch bestimmt Wort gehalten.“
„Hat er“, bestätigte ich.
„Ja, hat er. Ich wette mit dir, dass Chris jetzt sein Buch wiederhaben will. Ich wette, dass er dich bedrängt, es niemandem zu zeigen. Er hat sich auf's Glatteis begeben. Besser wäre es gewesen, wenn die Vergiftung geklappt hätte. Dann hätte er in dem Buch noch eingetragen, dass die anderen Kinder die restlichen Pillen dem Personal gegeben hätten. Er hätte es irgendwie in seiner Darstellung gedreht und die komplette Schuld abgewendet.“
„Ja“, sagte ich abwesend, „abgewendet.“ In mir drehte sich auch alles. „Es klingt alles so blöd, so naiv“, sagte ich, „als wenn wir ihm nicht auf die Schliche kommen würden.“
Jenny sah mich an und nahm meine linke Hand, die auf dem Tisch lag. Es war unsere erste Berührung.
„Chris wird versuchen, dich zu benutzen, um ihn zu schützen.“
Ja, ich war Chris' bester Anwalt. Jenny hatte recht.
„Bin ich zu befangen?“, fragte ich sie. Sie hielt immer noch meine Hand.
„Du liebst diesen Knaben, nicht wahr?“, fragte sie.
Ich nickte. „Irgendwie schon. Er hat ein beeindruckendes Genie in sich.“
„Er vernichtet Menschen. Auch wenn sie ihn zuerst lieben. Aber was wird, wenn sie ihn nicht mehr lieben? Wenn du ihn nicht mehr liebst? Wird er dich dann auch vernichten?“
Ja, dachte ich, er ist ein Gelton. Mit Haut und Haar.
„Was soll ich jetzt tun?“, fragte ich sie.
„Geh zu Dr. Brisco, gib ihm das Buch und lass dich auf eine andere Station versetzen. Vorerst.“
„Andere Station?“, fragte ich betroffen
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